Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Nachtglas nicht brechen. Also muss ich nur schnell genug sein. Oder liege ich da falsch?«
Seth antwortete nicht sofort. Etliche Sekunden kaute er offenbar auf einer Erwiderung herum, ohne sich dazu überwinden zu können, sie auch auszusprechen.
»Es ist unsere einzige Chance, richtig?« Nele starrte ihn nun ihrerseits eindringlich an. Sie war fest entschlossen, jetzt nicht nachzugeben. »Und das Risiko, dass die Welten wirklich ineinanderstürzen, ist viel größer! Ich trage nur die Verantwortung für mich selbst. Und ich entscheide, dass ich es versuchen will. Das hast du gar nicht zu bestimmen, verstehst du?«
Seths Schultern waren angespannt, seine Augen dunkel. Noch einmal sah er zum Himmel und der weißen Linie hinauf, die bei Tag ganz harmlos aussah. Dann ließ er den Blick zu der noch immer aufgeregt murmelnden Menschenmenge schweifen, die versuchte, auf die Kreuzung zu drängen, und dann zurück zu Nele.
»Na schön. Du hast recht«, sagte er zögernd. »Es ist wahrscheinlich das Klügste, das wir tun können. Wenn man in einer Situation wie dieser überhaupt von klug reden darf.« Er fuhr sich durch die wirren Haare und schüttelte den Kopf. Dann griff er unvermittelt nach Neles Hand. Seine Finger schlossen sich warm um ihre, und im gleichen Augenblick lief ein Schauer über Neles Rücken. Die Berührung war tröstlich und zugleich schrecklich verwirrend. So hatte bisher nur Jari ihre Hand gehalten. Es fühlte sich genauso an wie auf dem Heimweg von der Brücke, am Abend vor seinem Verschwinden. Und doch war es nicht Jari, sondern Seth, das wusste sie genau, und Nele begriff, dass die warme Haut an ihrer vor allem deshalb so beruhigend auf sie wirkte, weil sie sich daran erinnerte, wie er sie in der Nacht schützend im Arm gehalten hatte. Das Blut stieg ihr in die Wangen.
»Dann sollten wir nicht länger warten«, sagte sie schnell. »Gehen wir.«
Seth musterte sie nachdenklich. »Und deine Mutter?« Ein schalkhafter Funke blitzte in seinen Augen auf. »Sie wird doch sicher misstrauisch, wenn du mich mit auf dein Zimmer nimmst.«
Nele runzelte ungeduldig die Stirn. »Du kletterst natürlich über den Balkon rein, wie immer. Und um den Rest kümmere ich mich schon.« Sie machte einen ersten Schritt in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Also los. Du hast selbst gesagt, wir haben nicht viel Zeit.«
Seths Lächeln wurde ein wenig breiter. Er widersprach jetzt nicht mehr. Aber er ließ auch ihre Hand nicht los.
Am Ende war Mommi gar kein Problem. Sie hatte sich offenbar nach dem Frühstück wieder hingelegt und war so müde, dass sie sich nur kurz knurrend herumwälzte und mit der Hand wedelte, als Nele den Kopf zur Schlafzimmertür hereinstreckte und ihr erklärte, sie wolle sich ebenfalls noch eine Weile ins Bett verkriechen.
»Aber später erzählst du mir von der Massenhysterie an der Kreuzung!«, nuschelte Mommi noch und brachte ein verschlafenes Grinsen zustande, das mehr wie eine Grimasse aussah.
»Klar«, sagte Nele erleichtert und zog leise die Tür wieder ins Schloss.
Seth wartete bereits vor der Balkontür auf sie. Nele öffnete, um ihn hereinzulassen, und ließ die Rollläden herunter.
»Also, bereit?« Sie legte sich aufs Bett, wie schon in der vorletzten Nacht, als sie zum ersten Mal in Jaris Traumwelt gewesen war.
Aber Seth schien noch zu zögern, sich zu ihr zu legen. Eine ganze Weile blieb er vor dem Bett stehen und sah auf sie herunter.
Schließlich setzte Nele sich wieder auf. »Was ist denn?«, fragte sie ungeduldig. »Wollen wir jetzt anfangen oder nicht?«
Seth seufzte leise. »Ich mache mir nur Sorgen um dich«, murmelte er und ließ sich jetzt doch auf die Bettkante sinken. Seine Stimme klang ganz weich. »Ich… will nicht, dass dir etwas passiert, Nele. Auf gar keinen Fall, verstehst du?«
Nele erwiderte seinen Blick und spürte, wie ihr die Brust ein wenig eng wurde. Machte ihm der Gedanke, dass ihr etwas zustoßen könnte, wirklich so zu schaffen? Und vor allem– war es wirklich so gefährlich? Der Gedanke ließ ihren Puls augenblicklich schneller gehen. Und trotzdem war er nicht halb so unangenehm wie die Aussicht, dass noch viel mehr Irrsinn in ihre Welt einbrach.
Zögernd legte sie eine Hand auf Seths Knie. »Ich passe doch auf mich auf. Und wenn du wirklich meinst, dass es zu kritisch wird, kannst du mich ja wecken. Das geht doch, oder?«
Seth dachte einen Augenblick darüber nach. Sein Gesicht war immer noch dunkel vor Sorge. Aber schließlich nickte
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