Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Ansonsten konnte Nele keine Veränderung an ihm sehen. Was war da bloß mit ihm passiert? Sie fühlte sich selbst noch ganz zittrig.
»Und jetzt, fürchte ich, müsst ihr euch ein letztes Mal voneinander verabschieden. Ihr werdet euch in eurer Welt wiedersehen.« Fae ließ Jari los und winkte Tora, ebenfalls einen Schritt zurückzutreten.
Sekundenlang standen Nele und Jari voreinander und sahen sich nur an. Aber sie hatten sich doch gerade erst wiedergefunden, dachte Nele verzweifelt. Wieso musste sie ihn jetzt wieder hergeben? Was, wenn er den Kampf verlor? Was, wenn der, den sie in ihrer Welt wiedertreffen würde, immer noch Seth war? Und was um Himmels willen hatte Fae denn mit ihr noch vor? Konnten sie nicht einfach zusammen gehen?
In diesem Augenblick schlang Jari die Arme um sie und zog sie an sich.
»Sei stark, Nele. Dann bin ich es auch«, murmelte er dicht an ihrem Ohr. »Wir sehen uns wieder. Diesmal lasse ich dich nicht sitzen, versprochen.«
Nele hob den Kopf. Jaris Gesicht war nun ganz nah. Sie hätte jede einzelne seiner Wimpern zählen können.
Ihr dritter Kuss war, im Gegensatz zum zweiten, sehr weich, und voller Trauer und Hoffnung zugleich. Er fühlte sich so zerbrechlich an, wie ein Versprechen, das sie beide unbedingt halten wollten, aber nicht wussten, ob sie konnten. Es musste einen vierten Kuss geben… Nele hatte das Gefühl, im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen zu müssen. Es musste einfach. Und dabei wollte sie endlich einmal gar nichts denken müssen.
Ein leises Räuspern holte sie zurück in die Glashalle. Fae hatte Jari eine Hand auf die Schulter gelegt. »Du schaffst es«, sagte die Göttin. »Konzentriere dich nur auf das Licht und lass dich nicht ablenken. Dann kannst du gar nicht verlieren.« Sie griff nach seiner Hand. »Komm jetzt. Nele, öffne bitte das Fenster.«
Jari nickte. Sein Blick hing noch immer an Nele. Er versuchte ein Lächeln, aber es geriet sehr schwach. »Dann bis später«, sagte er.
Nele zwang sich, das Lächeln zu erwidern. »Bis später. Gute Reise.«
Jari nickte nur. Dann ließ er Nele endgültig los.
Nele atmete tief durch und dachte an Jaris Traumwelt. An die Wohnung mit der singenden Frau, in der sie bei ihrer ersten Traumreise gewesen war. Dort würde Jari doch einigermaßen sicher sein, oder?
Das Fenster öffnete sich, nur wenige Handbreit über dem schimmernden Boden. Mattgraues Licht fiel hindurch. Ein letztes Mal sahen Nele und Jari sich an. Dann kletterte Jari mit den Füßen voran durch die Öffnung und ließ sich fallen. Hinter ihm schloss sich das Fenster und verschwand, als wäre es nie da gewesen.
Nele starrte auf die Stelle, an der Jari eben noch gestanden hatte, und fühlte sich plötzlich sehr leer. Es kam ihr vor, als wollten ihre Beine sie nicht mehr tragen, und ihr war danach, sich einfach auf die Knie fallen zu lassen. Aber die Stimme der Göttin hielt sie zurück.
»Es tut mir leid.« Fae griff nach Neles Arm. Am liebsten hätte Nele sie abgeschüttelt. Sie wollte jetzt nicht berührt werden. Von niemandem. Aber stattdessen stützte sie sich schwer auf die Göttin, deren zierliche Gestalt gar nicht so aussah, als ob sie das aushalten könnte. Aber Fae schwankte nicht. Sie führte Nele nur schweigend die Treppe hinauf zu ihrem Kissenthron und half ihr, sich hinzusetzen.
»Sei tapfer, Kleines«, sagte sie sanft. »Ihr werdet euch bald wiedersehen. Und du musst dir über eines klar sein: Bei dem, was du für mich tun sollst, musst du ohnehin allein gehen.«
Nele hob den Kopf. »Was ich tun soll?« Ja, fiel ihr wieder ein, so etwas hatte die Göttin vorhin angedeutet. Aber sie war so schnell darüber hinweggegangen, dass Nele es schon wieder völlig vergessen hatte.
Fae hob die Brauen. »Aber ja. Ich hatte doch Heldentaten angekündigt, nicht wahr? Nun, dein Freund wird seinen Körper zurückerringen und mir die Vergeltung für meine verletzte Würde ermöglichen. Du aber, Nele– du wirst nichts Geringeres tun, als die Welt zu retten.«
»Die… was?« Nele starrte sie entgeistert an. Für einen Augenblick war sie durchaus versucht, am Verstand der Göttin zu zweifeln. Aber dafür hätte ihr Tora, die noch immer schweigend und aufrecht am Fuß der Treppe Wache stand, sicher den Kopf abgerissen. Und Fae, so viel war Nele nach einem Blick in ihr Gesicht klar, meinte es bitterernst.
»Selbstverständlich«, erklärte sie gelassen. »Oder in was für eine Welt dachtest du, zurückzukehren? Willst du dort alles so lassen,
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