Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
vor Stundenschluss sah sie auf die Uhr, drehte sich um und schrieb die Hausaufgaben an die Tafel.
»Ladies and Gentlemen– das war’s für heute«, sagte sie dann. Und damit war der Kurs entlassen, genau zwei Sekunden vor dem Gong.
Während Nele ihre Sachen zurück in den Rucksack räumte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass am anderen Ende des Klassenzimmers zwei Mädchen miteinander tuschelten und dabei ziemlich auffällig zu ihr und Jari herübersahen. Und schließlich machten sie sich auf den Weg quer durch den Raum, direkt auf die beiden zu.
Auch Jari hatte sie offenbar bemerkt und schien von der Aussicht, mit ihnen in Kontakt zu geraten, wenig begeistert, denn er war auf den Beinen, noch lange ehe Nele auch nur an Aufbruch denken konnte.
»Also, ich muss dann los«, sagte er. »Bis später!« Und dann war er auch schon weg, einfach abgetaucht genau wie gestern, ehe Nele die Gelegenheit hatte zu protestieren. Ein bisschen ärgerte sie sich schon darüber, und spätestens jetzt musste sie sich eingestehen, dass sie darauf gehofft hatte, die große Pause mit Jari verbringen zu können. Aber stattdessen ließ er sie mit den zwei Mädels allein, die sie insgeheim bereits »Sancho und Pancho« getauft hatte: Lang, dunkel und schlaksig die eine, klein, blond und rundlich die andere, dafür aber beide mit der gleichen Baskenmütze in Weinrot. Nele seufzte und packte weiter ihre Sachen ein. Beim nächsten Mal würde sie früher damit anfangen müssen, wenn sie eine Chance haben wollte, mit Jari Schritt zu halten.
Die beiden Mädchen blieben inzwischen vor ihrem Tisch stehen. »Hi, Nele!«
Nele erinnerte sich undeutlich an sie: Sie hatten tags zuvor schon tuschelnd und flüsternd in einer Ecke gestanden und zu ihr herübergestarrt, ehe sie im Schutz eines ganzen Rudels aus dem Mathekurs die ewig gleichen Fragen gestellt hatten, die Nele gestern so oft hatte beantworten müssen. Abgesehen von ihren Mützen waren sie unauffällig, grau fast, aber so gesehen nicht unsympathisch. Zwei ganz normale Mädchen eben, ohne viel Schminke, in Klamotten, die mit ihrem Cord-und-Tweed-Look vermutlich alternativ oder künstlerisch wirken wollten, ohne dass es ihnen wirklich gelang. Bestimmt waren sie ein bisschen schrullig, aber nett. Nele mochte solche Leute.
Sie überredete sich also zu einem Grinsen und stand auf, während sie den gepackten Rucksack über die Schulter warf. »Hey. Charlotte und Aylin, hab ich recht?« Auch die richtigen Namen fielen ihr nun wieder ein. Innerlich wischte Nele sich den Schweiß von der Stirn.
Ein Lächeln erschien auf Charlottes rundem Gesicht. »Genau!« Sie strich sich eine blonde Ringellocke aus der Stirn und rückte ihre Brille zurecht. »Hör mal, tut mir leid, wenn wir dich so überfallen, aber wir wollten dich was fragen.«
»Wenn es dir nichts ausmacht«, ergänzte Aylin schnell. Sie war ein Mäuschen, dachte Nele belustigt, so staksig und blass trotz der Masse an dicken, dunklen Haaren, die ihr über den Rücken fiel. Total schüchtern, aber irgendwie süß. Ein bisschen wie Lilly, zu Hause in München…
»Grundsätzlich nicht«, sagte Nele und versuchte, den Stich in der Brust zu ignorieren, den ihr das Heimweh plötzlich versetzte. Sie musste Lilly noch schreiben – wirklich schreiben –, was sie hier erlebte. Auch von diesen wilden Träumen in den letzten zwei Nächten. Warum eigentlich hatte sie das nicht schon gestern Abend gemacht? Bei Tageslicht betrachtet erschien es Nele völlig unverständlich, weshalb es ihr so schwergefallen war, diese Mail zu formulieren. Zum Heimweh gesellte sich nun auch noch ein schlechtes Gewissen, und wie zum Ausgleich verspürte Nele mit einem Mal das überwältigende Bedürfnis, besonders nett zu Aylin und Charlotte zu sein. »Worum geht’s denn?«
Gemeinsam verließen sie den Kursraum und schlenderten gemächlich über den Flur in Richtung Pausenhof.
»Na ja.« Charlotte strich sich noch einmal die widerspenstige Locke aus der Stirn. Zwecklos, wie Nele sofort klar war. »Weißt du, wir haben freitags so eine AG .«
»Foto-Kunst«, fiel Aylin ein und sah über die Schulter zurück, während sie voran die Treppe hinunterging. »Total verrückt, ehrlich.«
Im letzten Augenblick verkniff Nele sich ein Lachen. Total verrückt? Aylin sagte das mit einer Ernsthaftigkeit, als ob das eine Qualität wäre, die man später im Lebenslauf angeben und darauf stolz sein konnte. Was für ein absurder und zugleich witziger Gedanke. Nele konnte nicht
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