Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
wissen willst«, sagte er so leise, dass nur sie es hören konnte, »sag nur Bescheid. Ich beobachte die schon eine ganze Weile.«
Nele lachte. »Das merke ich mir«, raunte sie zurück. Für einen Augenblick waren sich ihre Gesichter ganz nah, und Jari konnte das Lächeln in ihren Augen sehen.
Dann ging die Tür auf, und Frau Klein betrat den Raum.
Hastig richtete Jari sich auf, während der ganze Kurs sehr schnell ruhig wurde. Frau Klein, so liebenswürdig sie auch war, und so harmlos sie auch auf den ersten Blick wirkte, mochte es gar nicht, wenn man ihr nicht zuhörte. Und spätestens seit der Notenvergabe zum Halbjahr wusste jeder im Kurs, wie ernst es ihr damit war. Jari nahm sich vor, Nele so bald wie möglich vor ihr zu warnen, damit sie nicht auch noch ein Opfer wurde. Vorerst aber biss er die Zähne zusammen und versuchte, nicht zu enttäuscht darüber zu sein, dass ihre Unterhaltung unterbrochen worden war.
***
Die erste Hälfte der Englischdoppelstunde verging für Nele trotz ihrer noch immer niederschmetternden Müdigkeit ziemlich schnell, weil sie unerwartet intensiv damit beschäftigt war, Jari immer wieder aus dem Augenwinkel zu beobachten. In den meisten Fällen erfolglos, da er entweder hochkonzentriert zur Tafel sah, oder aber mit bitterernster Miene notierte, was Frau Klein vorn anschrieb.
Manchmal aber, auch wenn es nur selten war, schien er zu spüren, dass Nele ihn ansah. Für einen winzigen Moment kreuzten sich dann ihre Blicke, und ein fast unsichtbares Lächeln erschien in Jaris Mundwinkel. Und das allein war– auf eine etwas alberne Art, wie Nele sich eingestehen musste– spannend genug, um sich die ganze Stunde über damit zu beschäftigen. Und das Beste daran war, dass ihr die fünfundvierzig Minuten auf diese Weise kaum wie eine Viertelstunde erschienen.
In der Fünfminutenpause verglichen sie und Jari ihre Stundenpläne und stellten fest, dass sie sich heute in der Sechsten zu Chemie noch einmal begegnen würden. Dazwischen lagen in Neles Fall eine Doppelstunde Deutsch und eine Einzelstunde Musik.
»Halb so wild«, erklärte Jari ihr mit einem kleinen Grinsen. »Der Frenzen schläft bei seinem eigenen Unterricht ein, der merkt gar nicht, wer sich Mühe gibt und wer nicht. Und bei Hallmann musst du nur die ersten zwei oder drei Wochen mitarbeiten, dann hat er einen guten Eindruck von dir und gibt dir den Rest deines Lebens eine Zwei. Und keiner von denen hat ein Todesbuch.«
Nele sah ihn fragend an. »Todesbuch?«
Jari wies auf die Tafel, auf der Frau Klein eine Seite freigelassen hatte. Dort standen mittlerweile zwei Namen– von Schülern, die sich während des Unterrichts kurz unterhalten hatten. »Wer da steht, kommt nach Ende der Stunde in Frau Kleins Todesbuch. Und ich sage dir, es ist nicht gut, zu viele Einträge da drin zu haben.«
Nele hob überrascht die Brauen. Da hatte sie Frau Klein also doch unterschätzt, obwohl sie ja gestern schon den Verdacht gehabt hatte, dass mit ihr nicht zu spaßen war. »Gut zu wissen.«
Jari nickte. Sein Gesicht war nun wieder ernst. »Ich hatte bisher Glück. Mit mir spricht ja für gewöhnlich niemand.« Er zuckte die Schultern, als wäre ihm das eigentlich ganz recht so. »Aber ich bin ja weder blind noch blöd. Mein Englisch ist auch so mies genug, da muss ich nicht noch Punktabzug durch Dummheit kassieren.«
Diese Logik erschien Nele bestechend einleuchtend. Und zumindest erklärte es, warum Jari gestern und auch heute im Kurs so furchtbar schweigsam gewesen war. Wenn auch nicht seine Flucht aus dem Klassenraum, ehe Nele auch nur »Piep!« sagen konnte. Aber darum wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen.
»Ich werde Buch führen über deine Tipps«, sagte sie stattdessen. »Ich schätze, das könnte sich als sehr hilfreich erweisen.«
Jari grinste zur Antwort nur still in sich hinein und stützte das Kinn in die Hand. Und obwohl in diesem Augenblick Frau Klein wieder den Raum betrat und ihr Gespräch damit genauso rüde unterbrach, wie sie es schon heute und gestern Morgen getan hatte, glaubte Nele zu sehen, dass er sich wirklich über ihre Worte freute. Dass er zumindest ein klein wenig stolz war, etwas Nützliches zu ihrer Eingewöhnung an dieser Schule beitragen zu können.
Und aus irgendeinem Grund, den sie selbst noch nicht so recht zu fassen bekam, machte das auch Nele froh.
Man musste Frau Klein zumindest eines lassen: Genauso pünktlich, wie sie ihren Unterricht begann, beendete sie ihn auch. Exakt eine Minute
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