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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Beer
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in die richtige Position zu bringen. Auf ihren Wangen waren rote Flecken erschienen, und Nele konnte ihrem Blick ansehen, dass sie die Mädchen bei ihrem Ehrgefühl erwischt hatte. Umso besser.
    Sie lächelte zufrieden. »Ach so, dann hab ich das falsch verstanden. Prima, ich frage ihn nachher.«
    Aylin und Charlotte nickten, obwohl das Unbehagen ihnen nach wie vor ins Gesicht geschrieben stand. Was sollten sie auch anderes tun? Aber bestenfalls, dachte Nele, hatte sie die beiden zum Nachdenken gebracht. Mit Menschen, die nachdachten, konnte sie sich durchaus anfreunden. Und daher war sie, als sie zum Ende der Pause gemeinsam ins Schulgebäude zurückgingen, tatsächlich froh, dass Charlotte mit ihr im selben Deutschkurs sitzen würde.
    »Danke, Jari.« Herr Köster nickte knapp. Ein dünnes Lächeln lag auf seinen blassen Lippen und zerknautschte sein Gesicht in noch tiefere Falten.
    Jari legte die Kreide etwas zu energisch zurück auf das Lehrerpult. Er hatte den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst, und seine Schultern waren angespannt, während er mit steifen Schritten den Raum durchquerte und sich schließlich wieder neben Nele setzte.
    »Wow«, flüsterte Nele und starrte auf die Reaktionsgleichungen, die er gerade eben an die Tafel geschrieben hatte. Das Gewirr aus Buchstaben, Zahlen und Pfeilen hatte sich schon vor etlichen Minuten völlig ihrem Verständnis entzogen– eigentlich schon, bevor er überhaupt damit begonnen hatte, es aufzumalen. Es hatte etwas mit der Entflammbarkeit verschiedener Stoffe zu tun, das hatte sie noch mitbekommen. Aber der Rest sagte ihr etwa so viel wie ein Text in Altgriechisch. Chemie war ihr noch nie leichtgefallen. Jetzt allerdings schien es ihr, als hätte sie, was das betraf, so einiges aufzuholen. Oder vielleicht war auch Jari einfach sehr viel schlauer als sie. Oder beides, was Nele recht wahrscheinlich vorkam, nachdem der leichenblasse Chemielehrer ihn nun schon zum dritten Mal in dieser Stunde aufrief, um eine Frage zu beantworten, obwohl Jari sich gar nicht gemeldet hatte.
    Jari schien von dieser Fragerei verständlicherweise ziemlich angefressen zu sein, obwohl er nie die Antwort verweigerte und darüber hinaus sogar zu wissen schien, wovon er da sprach. Nele war schwer beeindruckt, auch wenn sie ihn wirklich nicht um diese Aufmerksamkeit beneidete. Ebenso wenig wie um Sätze wie: »Jari, willst du das deinen Mitschülern nicht vielleicht mal erklären? Die scheinen das noch nicht begriffen zu haben.« Selbst wenn das eine Art Lob darstellen sollte, war es nichts, was Nele sich jemals zu Weihnachten wünschen würde.
    Zum Glück beendete nur wenige Sekunden später der Pausengong dieses Elend, das eine Chemiestunde hatte darstellen sollen. Und diesmal brauchte Nele sich nicht einmal zu beeilen, ihre Sachen zusammenzupacken – sie war längst damit fertig. Schließlich hatte sie schon vor einer ganzen Weile aufgegeben, irgendetwas verstehen zu wollen. Sie fühlte sich wie erschlagen und ziemlich frustriert. Der einzige Vorteil, den sie der Situation abgewinnen konnte, war, dass Jari keine Gelegenheit hatte, wegzulaufen.
    Aber er versuchte es nicht einmal. Im Gegenteil, es schien, als würde er seine Unterlagen absichtlich langsam in seine Tasche räumen, als wollte er seinen Mitschülern ausreichend Gelegenheit geben, diesmal ihm davonzulaufen.
    »Du siehst fertig aus«, stellte er nüchtern fest, als er endlich seine Tasche schulterte und aufstand. Die letzten Schüler verließen gerade den Klassenraum. Draußen stand Herr Köster und klimperte vielsagend mit seinen Schlüsseln.
    Nele verdrehte die Augen. »Danke, gleichfalls.«
    Jari grinste ein wenig gequält, zuckte aber nur die Schultern, während sie an Herrn Köster vorbei auf den Flur traten. Nele fiel allerdings auf, dass sich sein Gesicht deutlich verfinsterte, als das Klicken des Türschlosses im Gang widerhallte und kurz darauf Herr Kösters Schritte hinter ihnen auf den grauen Kacheln erklangen. Erst als sie draußen auf dem Hof standen und von dem Lehrer weit und breit nichts mehr zu sehen oder zu hören war, entspannte Jari sich ein wenig.
    Auch Nele atmete tief durch. »So«, sagte sie entschlossen. Der Tag war immer noch nicht nennenswert freundlicher oder auch nur heller als am Morgen. Der Atem kondensierte in dichten weißen Wolken vor ihren Gesichtern. »Und jetzt?«
    Jari zuckte erneut die Schultern. »Ich habe jetzt frei. Du doch auch.«
    Nele nickte. »Allerdings. Und ich habe Hunger.«

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