Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
»Okay. Ich folge dir einfach.«
Eine Weile trotteten sie schweigend nebeneinanderher. Die Innenstadt von Erlfeld, stellte Nele fest, war tatsächlich weder besonders schön noch besonders hässlich. Moderne Klotzbauten wechselten sich scheinbar planlos mit alten Gebäuden ab, die ganz hübsch hätten sein können, wären sie nicht so grau gewesen von den Abgasen. Das Sonnenlicht allerdings machte alles gleich viel heller und freundlicher, und in den beengten Erdflecken unter den wenigen kahlen Bäumen malten erste Krokusse kleine Farbtupfer in das ansonsten eher unscheinbare Bild der Fußgängerzone.
Nele wartete darauf, dass Jari vielleicht etwas erklären, sie auf irgendwelche Cafés oder gute Geschäfte hinweisen würde. Aber das tat er nicht. Logisch, wenn er kein Geld hatte, ging er wahrscheinlich auch nie in Cafés oder shoppen. Schade eigentlich. Nele entdeckte jedenfalls auf ihrem Weg gleich zwei Läden, die sie sich gern einmal näher angesehen hätte. Aber sie wollte Jari nicht schon wieder einladen. Irgendwann wäre ihm das sicher unangenehm.
»Du wolltest mir doch noch was erzählen«, sagte Jari plötzlich.
Nele zuckte innerlich zusammen. Es war nicht so, dass sie ihr Gespräch in der Umkleide am Morgen vergessen hätte. Das war ja ganz unmöglich. Aber diesen Teil hatte sie recht gut verdrängt. Bis jetzt.
Sie sah sich auf der belebten Straße um. Die Nachmittagssonne hatte viele Fußgänger aus ihren Wohnungen gelockt, nachdem das Wetter in den vergangenen Tagen so bescheiden gewesen war. Die Luft war von Stimmenrauschen und Schrittgeklapper erfüllt, in der Ferne spielten Straßenmusikanten. Nele wusste, es war albern. Aber sie fühlte sich beobachtet und belauscht, obwohl sie von den Menschen hier doch niemanden auch nur entfernt kannte.
Jari musterte sie von der Seite, so eindringlich, als versuche er ihre Gedanken zu lesen. Und dann blieb er unvermittelt stehen und wandte sich in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.
»Ich hab mir was überlegt. Wir gehen zur Selbstmordbrücke.«
Nele sah ihn entgeistert an. »Selbstmordbrücke?«
Jari grinste schief, während er sich schon wieder in Bewegung setzte. »Ist viel harmloser, als es klingt. So eine Fußgängerbrücke über die Umgehungsstraße halt.« Er zuckte die Schultern. »Irgendwann stand da oben mal einer und wollte springen. Er hat’s nicht getan, aber es war ewig das Klatschthema Nummer eins in der Schule. Seitdem heißt die Brücke so. Na jedenfalls ist dort eigentlich nie jemand. Da haben wir unsere Ruhe.«
Nele nickte zögernd und folgte ihm. Ja, die Brücke hatte sie gesehen. Sie war mit Mommi und Paps darunter hindurchgefahren, als sie in Erlfeld ankamen. Das war gar nicht so weit weg von der Schule, wenn sie sich nicht täuschte. Und von der Schule war es auch gar nicht weit in die Innenstadt. Allmählich kam sie wohl tatsächlich dahinter, wie diese Stadt aufgebaut war.
Tatsächlich dauerte der Weg kaum eine Viertelstunde. Jari führte Nele durch ein tristes Wohngebiet, nicht viel freundlicher als das, in dem er selbst lebte. Schon von Weitem konnte man das gedämpfte Rauschen der Schnellstraße hören. Und dann schließlich standen sie auf der schmalen Brücke, die kaum breiter war als ein großzügig angelegter Bürgersteig, lehnten sich an das Geländer und sahen den Autos zu, die wie ein Fluss aus buntem Metall unter ihnen hinwegströmten.
»Im Sommer kann man von hier aus in die Cabrios spucken«, erklärte Jari ernsthaft, als ginge es darum, ihr eine Sehenswürdigkeit zu präsentieren.
Nele musste lachen und spürte, wie mit dem Lachen ein Teil der Anspannung von ihr abfiel, die ihr seit Jaris Frage in der Fußgängerzone auf die doch eigentlich so gute Stimmung schlug. »Das sollten wir dann unbedingt mal machen.« Sie streckte die Hand aus. »Gibst du mir die Tüte? Ich will die Seifenblasen ausprobieren.«
Auch Jari grinste jetzt wieder. »Oh, eine winterliche Variation. Autoscheiben mit Seifenlauge bespritzen. Auch schön.« Er reichte Nele die Plastiktasche.
Kurz darauf stiegen schillernde Blasen ins rötlicher werdende Abendlicht.
Jari schwieg jetzt. Er fragte nicht noch einmal, zumindest nicht laut. Und Nele ahnte, wenn sie nicht von sich aus anfing, zu reden, würden sie irgendwann einfach nach Hause gehen. Und das war der Moment, in dem sie erkannte, dass sie es wirklich erzählen wollte. Die ganze Verwirrung mit jemandem teilen, damit sie nicht mehr so schwer auf ihr eigenes Gemüt drückte.
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