Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Nachmittag.«
Jari nickte. »Genau. Also– dann sag ich mal, bis später!« Er hob noch einmal kurz die Hand, dann wandte er sich ab und ging mit schnellen Schritten durch die Haupthalle davon. Am liebsten hätte Nele ihm nachgesehen, bis er verschwunden war, nur hatte sie auch keine Zeit zu verlieren. Frau Kuhlmann, die Geschichtslehrerin, machte zwar einen ganz gutmütigen Eindruck. Aber Nele wollte es sich nicht mit ihr verderben, indem sie später kam, als eine geschwollene Nase entschuldigen konnte. Also beeilte sie sich, die Treppen hinaufzulaufen.
Doch vor ihrem inneren Auge blieb noch lange das Bild von Jaris Gesicht haften, wie er sie ansah und mit dieser selbstironischen Ernsthaftigkeit lächelte, die Nele außer bei ihm noch bei niemandem gesehen hatte. Und das warme Prickeln, das dabei in ihrem Bauch kribbelte, entschädigte sie tausendfach für alles, was an diesem Morgen bisher schiefgelaufen war.
»Was hältst du von der hier? Ist die nicht genial?« Triumphierend hielt Nele einen Kleiderbügel in die Höhe.
»Wow. Die ist… rosa.« Jari starrte auf die leuchtende Trainingsjacke in ihrer Hand, als hätte das Kleidungsstück ihn hypnotisiert.
Nele lachte und streifte ihren Anorak ab, um ihn über die Stange des Kleiderständers zu werfen. »Gut, oder? Ich wette, die steht mir super!« Sie schlüpfte in die Trainingsjacke und drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Es stimmte, die Jacke war wirklich sehr rosa. Aber zu grell nun auch wieder nicht. Sie passte hervorragend zu dem Farbton von Neles Strähnchen. Und sie hatte rote Bündchen mit schwarzen Vögeln darauf. So ein toller Fund– und das gleich im ersten Geschäft! Nele grinste ihr Spiegelbild zufrieden an.
»Perfekt.« Sie drehte sich wieder zu Jari um und hielt noch einmal den Kleiderbügel in die Höhe, an dem ein buntes Plastikröhrchen hin und her baumelte. »Außerdem gibt’s Seifenblasen gratis!«
Jari verzog skeptisch das Gesicht. Doch auch in seinen Mundwinkeln konnte Nele ein kleines Grinsen erkennen.
»Ich gebe zu, das hat was.«
»Also gekauft!« Nele nickte bekräftigend und tauschte die Trainingsjacke mit ein wenig Bedauern wieder gegen ihren Anorak. Am liebsten hätte sie sie gleich anbehalten. Aber obwohl sich die Sonne seit dem Vormittag behauptet und inzwischen die Wolken fast vollständig vertrieben hatte, war es dafür wohl doch noch zu kühl draußen. Dann würde sie ihre Errungenschaft eben heute Abend auf dem Sofa einweihen.
Sie schlängelten sich zwischen Kunden und Kleiderständern bis zur Kasse, und Nele bezahlte. Dann verließen sie das Sportgeschäft und traten hinaus in die frische Frühlingsluft.
Mit einem tiefen Atemzug hob Nele das Gesicht in die Sonne. Es war, als wäre die Luft ohne Wolken viel leichter, und obwohl die Sonne so kurz nach dem Winter noch nicht viel Kraft hatte und jetzt, am späten Nachmittag, bereits wieder langsam auf die Dächer der Häuser sank, kribbelte die Wärme angenehm auf Neles Haut.
»Mission erfolgreich! Und jetzt?« Ein Lächeln erschien unwillkürlich auf ihrem Gesicht, als ihr Blick Jaris traf. Sie war nervös gewesen vor diesem Treffen, das musste sie zugeben. Nein, nervös war sogar noch weit untertrieben. Aber allmählich, vor allem nach dem schnellen Erfolg beim Einkaufen, legte sich die Aufregung, und Nele spürte, wie sie begann, ihre gemeinsame Zeit zu genießen. Selbst wenn Jari nach wie vor eher schweigsam blieb.
Auch jetzt zuckte er die Schultern und brauchte eine Weile, ehe er antwortete. Er sah sich um, die Stirn in leichte Falten gelegt.
»Ich kann dir noch ein bisschen die Innenstadt zeigen, wenn du Lust hast. Auch wenn die so spannend nicht ist, ehrlich gesagt.«
Nele nickte. »Klar, gute Idee. Kann nicht schaden, ein bisschen ortskundig zu werden.«
Jari brummte zustimmend, zögerte aber noch, voranzugehen.
»Soll ich das für dich tragen?«, fragte er schließlich und deutete auf die Tüte in Neles Hand.
Nele sah ihn verblüfft an. Dass Jari gentlemanlikes Verhalten an den Tag legen würde, hätte sie im Leben nicht erwartet. Eigentlich erwartete sie das von niemandem in ihrem Alter.
»Äh, ja.« Sie streckte ihm die Tüte hin und spürte, wie sie dummerweise ein bisschen rot wurde. »Danke.«
Jari atmete hörbar auf, als seine Finger sich um die Plastikgriffe schlossen. »Die Altstadt sieht ein bisschen hoffnungsvoller aus«, erklärte er und kratzte sich ein wenig verlegen am Hinterkopf. »Gehen wir doch erst mal dahin.«
Nele nickte.
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