Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
»Also, keine Ahnung, ob das überhaupt geht. Aber irgendwie… ich weiß auch nicht. Es ist ein schlimmer Gedanke, dass du einschläfst und nie wieder aufwachst.«
Er verstummte abrupt, und Nele sah seine Wangen rot werden, als würde ihm selbst erst jetzt bewusst, was er da gesagt hatte. Aber er ließ sie immer noch nicht los. Nele schluckte mühsam. Er war so nah und sie plötzlich so verwirrt. Und trotzdem fühlte es sich fantastisch an und ließ alle unangenehmen Gedanken weit in den Hintergrund rücken. So nah. Und noch näher…
Ihre Lippen trafen sich. Kurz, flüchtig, trennten sich wieder, noch ehe Nele die Berührung wirklich verarbeiten konnte. Überrascht wichen sie auseinander, einen Schritt, und dann noch einen. Der Druck von Jaris Arm verschwand.
Neles Gesicht brannte wie Feuer. Inzwischen war es fast dunkel, und sie konnte Jari nicht mehr gut sehen. Wie eigenartig, dachte sie, dabei hatte sie doch eine Sekunde zuvor noch jedes Detail seiner Züge erkennen können.
»Entschuldige«, murmelte Jari. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und wirkte nun sehr verlegen.
Nele schüttelte hastig den Kopf. »Nein, nein… schon gut.« Sie räusperte sich. »Ich… also, ich glaube nicht… dass du was machen kannst, was meine Träume angeht. Trotzdem. Danke.« Sie verstummte. Das klang so unpassend. Selbst wenn sie eine bessere Antwort gehabt hätte, hätte es sich komisch angefühlt, einfach an ihr Gespräch anzuknüpfen, als wäre gar nichts. Aber sie wusste auch nicht, wie sie sonst mit der Situation umgehen sollte. Immerhin fiel ihr ein, dass sie ja wenigstens ein Lächeln versuchen konnte.
Jari nickte, eine so kleine Bewegung, dass sie kaum sichtbar war. »Gehen wir nach Hause«, schlug er vor. »Ist schon spät.«
»Okay«, murmelte Nele und hatte, als sie sich stumm auf den Heimweg machten, das Gefühl, etwas schrecklich falsch gemacht zu haben. Sie wollte ihn doch nicht zurückweisen, und sie wollte auch nicht, dass er sich wieder hinter seine Mauer verkroch!
Und darum nahm sie, als sie die Brücke hinter sich gelassen hatten und wieder das Wohnviertel passierten, allen Mut zusammen und schob ihre Hand in Jaris Tasche, um nach seinen Fingern zu greifen.
Mit einem Ruck hob Jari den Kopf und warf ihr einen fast entsetzten Blick zu. Aber seine Hand schloss sich dennoch fest um Neles. Es brauchte keine Worte. Es war in diesem Moment genug für sie beide– die verschränkten Finger in der warmen Tasche, und die Nacht, die immer schneller herabfiel, während sie durch die ebenfalls schweigenden Straßen wanderten.
Am Ostbahnhof in der Nähe der Schule trennten sie sich.
»Also… bis morgen«, sagte Jari und lächelte vorsichtig. »Halb acht unter der Linde?«
Nele nickte. Nur sehr widerwillig verließ ihre Hand Jaris Tasche. »Halb acht.«
Das Lächeln wurde breiter. »Abgemacht. Und… pass auf dich auf.«
Ein Kloß steckte plötzlich in Neles Hals. »Natürlich«, flüsterte sie. »Wir sehen uns morgen. Auf jeden Fall.«
»Unbedingt.« Jaris Stimme war ebenso leise. »Schlaf gut.«
Er hob noch einmal die Hand zum Gruß. Dann wandte er sich um und verschwand in der milchigen Dunkelheit der Straßenlaternen. Ohne eine letzte Umarmung. Ohne einen weiteren Kuss, auf den Nele, das musste sie sich eingestehen, gehofft hatte.
Und trotzdem. Als sie allein das letzte Stück ihres Heimwegs antrat, hätte sie vor Freude schreien mögen.
***
Es war wirklich passiert.
Jari sagte es sich immer wieder, während er die letzten Meter bis nach Hause zurücklegte. Es war passiert, das war keine Fantasterei. Er hatte Nele geküsst. Oder sie ihn. Er war sich da nicht sicher, aber sicher war, dass es diesen Kuss gegeben hatte. Ganz real und echt.
Noch vor nicht einmal einer Woche hätte Jari niemals gedacht, dass er sich über irgendetwas so freuen könnte– oder dass er so etwas tun könnte. Und dann mit einem Mädchen, das er noch kaum kannte. Er war es von sich selbst gewöhnt, dass er Begegnungen mit seinen Mitschülern eher mit gemischten Gefühlen entgegensah und sie nach Möglichkeit vermied.
Aber nicht heute.
Es war seltsam und ungewohnt, aber von Nele fühlte Jari sich weder bedrängt noch bloßgestellt. Stattdessen hatte sie sich ihm anvertraut, in einer Sache, über die sie offenbar nicht oft redete. Und dann…
Ein Nachhall aufgewühlter Gefühle rauschte durch ihn hindurch, als er an den Kuss dachte. Und an ihre Hand, die sich in seine Tasche schob. Wie sollte er ihr morgen nur
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