Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
begegnen? Jari wusste es nicht, und zugleich hätte er die Nacht am liebsten vorgespult bis zum Morgen, wenn er Nele wiedersehen würde. Er fühlte sich leicht und so froh wie seit Jahren nicht.
Wie immer sank seine Gesamtstimmung um etliche Grad, kaum dass er die Haustür zu dem grauen Wohnklotz aufgeschlossen hatte, in dem er lebte. Aber selbst das konnte seine Laune an diesem Abend nicht völlig in den Keller reißen. Tatsächlich hatte er sich inzwischen so sehr in seine Freude hineingesteigert, dass er sich vor sich selbst ein wenig gruselte. Er ertappte sich sogar dabei, wie er leise vor sich hin pfiff, während er die Wohnungstür öffnete und seine Jacke nachlässig auf den Haufen warf, der immer noch genauso dalag wie seit drei Wochen. Es war egal. Alles egal. Er wollte ja sowieso nur eben etwas essen und dann diese Euphorie mit in sein Zimmer und in den Schlaf nehmen. Das machte es einfach, für den Moment den Dreck und die Trostlosigkeit zu übersehen. So zu tun, als gehörten sie gar nicht zu ihm und seinem Leben. Außerdem hatte sein Vater mittwochs Spätschicht und machte dazu regelmäßig Überstunden. Jari würde ihn also heute gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Noch eine gute Sache.
Im Kühlschrank fand er eine frische Packung Salami, und auf dem Küchentisch lag ein Brot, das noch nicht angeschnitten war. Perfekt. Jari schnitt zwei fingerdicke Scheiben aus der Mitte und belegte sie doppelt, ehe er sie aufeinanderstapelte.
Doch erst als er bereits auf halbem Weg in sein Zimmer war, fiel ihm plötzlich die Stille auf. Hätte seine Mutter nicht längst nach ihm rufen müssen? So spät war es doch noch gar nicht. Schlief sie trotzdem schon? Oder ging es ihr vielleicht wieder schlechter? Eine ungute Ahnung regte sich in Jaris Brustkorb. Er sollte zumindest noch schnell nach ihr sehen, bevor er in sein Zimmer ging.
Kurz entschlossen kehrte er noch einmal um, öffnete die Wohnzimmertür– und blieb stocksteif auf der Schwelle stehen.
Der Raum war dämmrig, wie er es seit Wochen nicht anders gesehen hatte. Draußen war es längst dunkel, trotzdem brannte kein Licht, und nur die entfernten Straßenlaternen ließen noch ein paar unscharfe Schemen erkennen. Seine Mutter lag auf dem Sofa und schlief. Alles war wie immer. Eigentlich.
Doch im Sessel, von dem Jari von seinem Standpunkt aus nur die breite Rückenlehne sehen konnte, saß jemand. Ein Mann, dessen breite Hände mit der rissigen Haut viel zu ruhig auf den Armlehnen lagen. Der Anblick ließ Jari innerlich zu Eis erstarren.
Sein Vater.
Warum zum Teufel war er hier?
Er regte sich nicht, saß einfach nur da wie sonst, wenn er fernsah. Bloß, dass es hier seit Montag keinen Fernseher mehr gab, sondern nur noch ein Stück schmutzig weißer Raufasertapete, wo vorher das Gerät gestanden hatte.
Jari spürte, wie sein Herz heftig zu pochen begann, um das Blut schneller durch seine vereisten Adern pressen zu können. Nur wenige Augenblicke später verschwand die Starre, und stattdessen brach ihm kalter Schweiß aus. Sein Vater hätte doch noch für Stunden bei seiner Schicht sein müssen! Was hatte das zu bedeuten?
In den vergangenen Jahren, als die Spannungen zwischen ihm und seinem Vater immer mehr wuchsen, hatte Jari gelernt, früh zu erspüren, wenn Gefahr in der Luft lag und es besser war, sich in sein Zimmer zurückzuziehen, bis sich die Lage beruhigt hatte. Auch diesmal hätte er das tun können. Es waren ja nur ein paar Schritte. Sich einschließen, aufs Bett legen, in die Leere flüchten, in die ihm sein Vater nicht folgen konnte. Oder in die Erinnerung an das Treffen mit Nele. Aber seine Füße schienen wie mit Nägeln an die wackelige Fußleiste geheftet zu sein.
Lauf!, schrie eine aufgeregte Stimme in seinem Inneren. Wenn du noch lange hier stehen bleibst, sieht er dich!
Zu spät. Natürlich hatte sein Vater vermutlich längst bemerkt, dass Jari auf der Schwelle stand. Natürlich hatte er das. Und jetzt drehte er sich langsam um und sah seinen Sohn an der Sessellehne vorbei an. Jari konnte sein Gesicht kaum erkennen. Nur ein winziges Schimmern, dort wo seine Augen sein mussten.
»Warum denn so fröhlich?« Die Stimme seines Vaters war ganz leise vor Freundlichkeit. Eine gefährliche Freundlichkeit.
Jari zuckte mit erzwungener Ruhe die Schultern. Wenn er nur den passenden Moment abwartete, ergab sich vielleicht doch eine Möglichkeit, die Lage zu entspannen. Wenn er nur gewusst hätte, was für eine bizarre Situation das eigentlich
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