Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
sich so aufzuführen, dachte sie und kniff sich selbst in den Handballen. Sie würde sonst auf Dauer noch völlig bekloppt.
»Super«, sagte Charlotte erleichtert. »Wir wollen nämlich gerade morgen ein neues Projekt besprechen, weißt du? Unser Osterprojekt.«
Aylin nickte eifrig, und ihr schmales Gesicht leuchtete dabei auf. »Frau Kraft will uns diesen Freitag das Material präsentieren, das sie zusammengestellt hat.«
Nele runzelte leicht die Stirn. »Osterprojekt… heißt das, wir müssten auch in den Ferien daran arbeiten?«
Charlotte zuckte ein bisschen unsicher die Schultern. »Kann sein. Aber es macht Spaß, ehrlich! Du wirst begeistert sein!«
Nele schüttelte verständnislos den Kopf. »Das ist ja verrückt.«
Aylin strahlte sie an. »Habe ich doch gesagt!«
Nele seufzte tonlos. Foto-Kunst zu Ostern. Sie war sich nicht ganz so sicher, ob sie davon wirklich begeistert sein würde. Aber versprochen war schließlich versprochen. Und es konnte sicher nicht schaden, sich ein wenig mit der Verrücktheit anderer zu befassen. Vielleicht würde sie das wenigstens von ihrer eigenen ablenken.
Verrückt. Total verrückt.
Nele dachte es schon wieder, sie konnte einfach nichts dagegen tun. Aber das Wort wie eine magische Formel im Rhythmus ihrer Schritte zu wiederholen, während sie die Treppen in dem Plattenbau hinaufstieg, in dem Jari wohnte, war deutlich besser, als auf ihr rasendes Herz zu lauschen. Oder zuzulassen, dass ihre schweißfeuchten Hände ihr zu sehr bewusst wurden, oder das nervöse Ziehen in ihrem Magen.
Das Treppenhaus roch nach billigem Putzmittel und altem Urin, nach klebrigem Staub und feuchtem Beton. Schmuddelige Fußmatten lagen vor den Wohnungstüren, von denen zum Teil schon der verblichene Lack abblätterte.
An der Tür, hinter der laut Klingelschild Jari mit seinen Eltern leben musste, hing ein trockener brauner Blumenkranz, auf dem ein grinsendes Wichtelpüppchen saß. Willkommen!, stand in verschnörkelten Buchstaben auf einer kleinen Holzplatte darunter. Nele hatte sich noch nie irgendwo unwillkommener gefühlt. Etliche Minuten, wie ihr schien, starrte sie auf das Schild und lauschte auf das bedrückende Gefühl der Trostlosigkeit, das der Anblick in ihr auslöste. Sie wusste schon jetzt, dass sie davon träumen würde. Und nicht nur von dem Schild, sondern von diesem ganzen beklemmenden Szenario, das Nele so unwirklich vorkam, als sei es bereits jetzt ein Traum. Sie wollte dort nicht hinein, das Gefühl war beinahe übermächtig. Am liebsten hätte sie überhaupt keinen Kontakt mit dieser Umgebung aufgenommen. Solange sie sie nicht berührte, konnte sie auch Nele nicht berühren, das hatte sie auf ihren Traumreisen gelernt. Aber sie musste wissen, wie es Jari ging. Warum er nicht in der Schule gewesen war. Es führte kein Weg daran vorbei.
Das grelle Scheppern der Klingel war sicher durch das gesamte Stockwerk zu hören. Trotzdem rührte sich eine ganze Weile nichts hinter der Tür.
Eigentlich hätte Nele jetzt einfach gehen können. Aufgeben und umkehren. Aber dazu hatte sie dieser Weg schon zu viel Kraft gekostet. Also nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und drückte ein zweites Mal auf den Klingelknopf. Wieder schrillte es, dass es ihr durch Mark und Bein ging.
Und dann plötzlich knackte es im Schloss, als ob von innen ein Schlüssel gedreht würde. Nele zuckte zusammen. Sie hatte keine Schritte gehört, keine noch so leise Regung. Nun aber öffnete sich die Tür, und in dem schmalen Spalt erschien ein bleiches Gesicht. Eine Frau mit wirren aschblonden Haaren.
»Ja?«
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Nele schluckte mühsam. Die Augen der Frau sahen aus wie die von Jari. Helles Graublau, ernst und kühl– nur dass ihre gerötet und geschwollen waren, als hätte sie lange geweint. Jaris Mutter. Es war nicht zu übersehen.
»Bitte?«, wisperte sie.
Nele öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Viel zu spät fiel ihr ein, dass sie sich gar nicht richtig überlegt hatte, was sie sagen wollte, wenn sie Jari nicht persönlich antraf.
»Ich… äh… ich wollte zu Jari«, stammelte sie endlich und ärgerte sich im gleichen Moment über sich selbst. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Stell dich nicht so dumm an!
»Ich bin in seinem Englischkurs«, brachte sie hervor. »Und in Erdkunde. Er war ja heute nicht da, da dachte ich, er ist wahrscheinlich krank…« Nele hatte das unangenehme Gefühl, dass ihr Gesicht unter dem Blick von Jaris Mutter in Flammen
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