Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
aufging. Ihre eigenen Worte klangen furchtbar lächerlich in ihren Ohren, und am liebsten wäre sie im Erdboden versunken.
Aber Jaris Mutter lachte nicht. Im Gegenteil. Ihr Gesicht wirkte mit einem Mal sehr traurig, fast schmerzlich.
»Bist du Nele?« Ihre Stimme war wirklich erschreckend kraftlos, nicht einmal ein richtiges Flüstern.
Nele schluckte. Die Frage traf sie unvorbereitet. Nein, sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass Jari daheim von ihr erzählt hatte. Zögernd nickte sie. »Ja, die bin ich.« Ihre Stimme klang im Vergleich zu der von Jaris Mutter unangenehm laut, geradezu grob.
Die Frau lächelte gequält. Dann aber zog sie die Tür etwas weiter auf. »Komm rein.«
Nele hatte plötzlich das Gefühl, kaum noch atmen zu können. All ihre Instinkte rieten ihr nachdrücklich zur Flucht, und zwar auf der Stelle. Aber sie war nicht feige. Also trat sie trotzdem über die Schwelle.
Drinnen war es dunkel. Ein enger Flur, mit Kunststoffbelag ausgelegt, an dem ihre Schuhsohlen bei jedem Schritt kurz haften blieben. Es roch muffig, nach alten Lebensmitteln und verschüttetem Alkohol. Nele wurde ein wenig flau im Magen.
Jaris Mutter führte sie in eine winzige Küche, in der zwischen einem kleinen Tisch und der Arbeitsplatte kaum Platz war, sich umzudrehen. An der Wand stand eine schmale Küchenbank, auf der ein Haufen Decken lag. Jaris Mutter setzte sich hin und wickelte sich eng in einen der löchrigen Wollfetzen. Von dort aus beobachtete sie Nele aus diesen trüben und gleichzeitig so wachen Augen.
Nele blieb auf der Schwelle stehen und versuchte vergeblich, den Klumpen hinunterzuschlucken, der sich in ihrem Hals gebildet hatte.
»Also… Eigentlich wollte ich…«
»Er ist nicht hier.«
Überrascht verstummte Nele. Die Worte waren so eindringlich gewesen, so laut trotz der tonlosen Stimme.
»Wie meinen Sie das?«, flüsterte sie.
Jaris Mutter schüttelte den Kopf. »Er ist weg. Er ist einfach weg.«
Entsetzt sah Nele, dass eine Träne über ihre bleiche Wange rollte.
»Er hat mich verlassen.« Die mageren Schultern unter der Decke bebten.
Nele zupfte mit den Zähnen an ihrem Piercing, so nachdrücklich, dass es zu bluten begann. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte– nicht einmal, was sie denken sollte. Was sollte das denn heißen: Jari war weg? War er etwa abgehauen von zu Hause? So plötzlich, ohne ihr etwas zu sagen? Oder war diese Frau einfach nur wirr im Kopf? Nele konnte das nicht ausschließen. Die ganze Zeit schon hatte sie das unangenehme Gefühl, dass die Frau gar nicht wirklich sie ansah, sondern dass ihr glasiger Blick einfach durch sie hindurchging.
»Wo ist er?«, fragte Nele leise. »Ist er krank?«
Jaris Mutter schüttelte den Kopf. »Nein«, wisperte sie. »Er ist gegangen. Ich kann ihn nicht erreichen.« Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Endlose Augenblicke rührte sie sich nicht.
Irgendwo im Haus bellte ein Hund. Ein Kind weinte.
»Du musst gehen.« Die Worte klangen seltsam dumpf zwischen den bleichen Fingern hervor. »Vater kommt bald zur Mittagspause. Du solltest dann nicht hier sein.«
Ein Schauer lief über Neles Rückgrat. Und auf einmal wusste sie zwei Dinge ganz genau: Sie würde Jari hier nicht finden. Und sie sollte wirklich nicht hier sein, wenn sein Vater nach Hause kam.
Also floh sie.
Fünftes Kapitel
Die Göttin erwartete sie in der Glashalle auf einem ausladenden Thron aus Federkissen und moosgrünem Samt. Sie hatte sich lang auf dem glänzenden Stoff ausgestreckt, den schlanken Körper in scheinbar vollkommener Gelassenheit in die weichen Falten geschmiegt. Im Licht, das unter dem Boden der Halle glomm, schimmerte ihre Haut wie matte Bronze. Sie musterte Seth und sein Kätzchen aus ihren farblosen Augen. Kristallklar und kühl, unnahbar wie eine Sphinx.
Und genauso tödlich. Seth hatte ihre Worte vor zwei Nächten zwar ignoriert, aber vergessen hatte er sie nicht. Sie war nicht gut auf ihn zu sprechen, und nun auch noch der Vorfall in der vergangenen Nacht. Obwohl Seth immer noch fand, dass es diesem schäbigen Menschenjungen nur recht geschah, dass er sich verirrt hatte – allmählich wurde es wohl Zeit, sich wieder gut mit Fae zu stellen. Sonst würde es vielleicht doch unangenehm für ihn werden.
Ohne der jungen Frau an seiner Seite noch einen Blick zu schenken, glitt er die Stufen hinauf zum Thron und rieb seine Wange an der seiner Göttin – viel zärtlicher und einschmeichelnder als bei ihrer letzten Begegnung. Das
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