Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
zumindest noch ein paar Minuten.
Sie hatte das Handy schon in der Hand, als sie plötzlich Aylin und Charlotte entdeckte, die über den Hof auf sie zukamen. Ihre Baskenmützen leuchteten schon von Weitem in der Morgensonne, die sich für eine kurze Stippvisite hinter den Wolken hervorwagte. Nele seufzte ergeben und wusste nicht, ob sie sich freuen oder lautlos fluchen wollte. Einerseits war sie furchtbar erleichtert, dass wenigstens diese beiden heute Morgen an sie dachten. Aber hätten sie nicht ein bisschen später darauf kommen können, nachdem sie zumindest kurz Lillys Stimme gehört hatte? Am liebsten hätte Nele sich abgewandt und so getan, als hätte sie weder Charlotte noch Aylin gesehen. Aber stattdessen steckte sie das Handy wieder weg und zwang sich zu einem Lächeln.
»Guten Morgen!« Charlottes Augen strahlten hinter ihrer Brille.
»Na, alles klar?«, setzte Aylin hinzu. »Wie geht es deiner Nase?«
Nele zuckte die Schultern. Ihre Nase war so gut wie neu und hatte zu ihrer Erleichterung keine bleibenden Schäden davongetragen. Aber das trug unterm Strich leider nicht allzu viel dazu bei, die miese Gesamtsituation zu verbessern. »Ich hab nicht so gut geschlafen. Bin ziemlich hinüber.«
Charlotte nickte ernsthaft. »Vollmond«, erklärte sie verständnisvoll. »Kein Wunder, dass du eine unruhige Nacht hattest. Das geht mir auch immer so.«
Aylin verdrehte die Augen. »Also, ich glaub nicht an so einen Blödsinn. Ich schlafe immer super bei Vollmond. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das wirklich irgendeinen Einfluss hat. So was ist doch höchstens eine selbsterfüllende Prophezeiung, wenn man fest genug dran glaubt.«
Charlotte rümpfte die Nase. »Dein Körper besteht zu siebzig Prozent aus Wasser, Aylin. Wenn der Mond Ebbe und Flut erzeugen kann, wie kannst du dann allen Ernstes denken, dass er auf dich keinen Einfluss hat?«
Aylin schnalzte mit der Zunge. »Esoterischer Quatsch«, sagte sie im Brustton der Überzeugung.
Nele lauschte dem Geplapper der beiden und war froh, dass sie im Augenblick offenbar nicht erwarteten, sie würde sich daran beteiligen. Sie schienen fürs Erste ganz zufrieden damit zu sein, einfach in Neles Nähe herumzustehen. Fürs Erste. Ewig kam sie damit natürlich nicht durch.
»Sag mal, Nele«, setzte Aylin dann auch genau in diesem Moment an, und Nele sah wieder dieses leicht nervöse Funkeln in ihren Augen, das sie jetzt schon gut von ihr kannte. »Hast du Jari eigentlich gefragt? Wegen der AG ?«
Nele atmete einmal langsam ein und wieder aus. Nein, das hatte sie gestern tatsächlich vergessen. Und zwar völlig. Kein Wunder, sie und Jari hatten schließlich Wichtigeres zu bereden gehabt. Und zu tun… Ihr Gesicht wurde heiß, als die Erinnerung an seine Lippen auf ihren kribbelnd zurückkehrte. Schnell schüttelte sie den Kopf. »Er ist ja nicht da«, erwiderte sie ausweichend und hoffte, keins der beiden Mützenmädchen würde darauf beharren, dass sie inzwischen durchaus mehrere Gelegenheiten gehabt hätte, das Anliegen bei Jari vorzutragen.
Aber Aylin nickte bloß, und Nele konnte nicht umhin, die Erleichterung in ihrem Blick zu bemerken. Das wiederum ärgerte sie heute sogar noch mehr als zuvor, aber sie gab sich Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. Gerade war es ihr lieber, Aylin noch eine Weile ihre Vorurteile zu lassen, wenn sie das davon abhielt, weiter nachzubohren.
»Ich gehe nach der Schule bei ihm vorbei und bringe ihm die Hausaufgaben. Dann frage ich ihn«, erklärte sie dennoch ein wenig trotzig– und war im nächsten Moment selbst erstaunt darüber, was sie da gerade gesagt hatte. Zu Jari nach Hause gehen! Wollte sie das denn wirklich?
Charlotte und Aylin wechselten einen Blick, der halb entsetzt, halb bewundernd wirkte. Aber der Kommentar, mit dem Nele schon fest gerechnet hatte, blieb aus.
»Ach so«, sagte Charlotte nur. Eine kurze Pause entstand, in der alle drei ein wenig unbehaglich schwiegen.
»Aber du kommst doch auf jeden Fall?«, fragte Aylin schließlich.
Nele antwortete nicht gleich. Für einen Augenblick war sie fast versucht, Nein zu sagen. Weil sie gerade wirklich wütend auf alle war und gar nicht recht wusste, warum sich dieses Gefühl so stark in ihr ausbreitete. Sie kam sich regelrecht albern dabei vor. Und das hatte vermutlich nur entfernt damit zu tun, dass Aylin und Charlotte noch immer an diesen dämlichen Vorurteilen Jari gegenüber festhielten.
»Klar«, sagte sie darum und nickte. Sie musste aufhören,
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