Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
wagte kaum, sich zu bücken und danach zu tasten, es vielleicht ins matte Licht zu heben, um zu sehen, was es war.
Weiches Fell schmiegte sich an seine Finger, fusselig und abgegriffen. Jari stutzte. Ein Stofftier?
Etwas mutiger griff er zu, schloss die Hand um einen pelzigen Bauch.
Es war ein Teddy, der mit der Nase nach unten auf dem Boden gelegen hatte. Aber nicht irgendein Teddy. Sein Teddy. Der einzige, den Jari jemals besessen hatte. Wieso war der hier? Er drehte ihn um, um sich sicher zu sein.
Der Teddy hatte seine Augen. Und er blutete.
Mit einem erstickten Keuchen warf Jari das Stofftier von sich, so weit er konnte. Das war doch nicht möglich!
Der Teddy verschwand in der Dunkelheit, verschmolz mit dem unförmigen Haufen. Und allmählich begann Jari zu ahnen, woraus dieser Haufen bestehen mochte. Vor allem, da er nun endlich auch den Geruch zuordnen konnte, den er verströmte. Blut. So viel Blut.
Übelkeit schnürte ihm die Brust zusammen. Was sollte er jetzt tun? Allein die Vorstellung, sich den schattenhaften Umrissen noch weiter zu nähern, ließ bittere Galle seine Kehle hinaufsteigen. Hastig warf er noch einen Blick über die Schulter. Die Gestalten hinter dem Glas waren wieder zu undeutlichen Schemen verschwommen, in unerreichbare Ferne gerückt. Ich habe keine Wahl, wiederholte Jari in Gedanken. Denn es gab offensichtlich nur diesen einen Weg nach draußen. Und hierbleiben konnte er unmöglich.
Jari richtete den Blick fest auf die helle Luke weit über ihm. Wenn er nur nicht hinsah, woran er gerade hinaufkletterte, würde es schon gehen.
Aber natürlich sah er am Ende doch hin. Er konnte gar nicht anders. Er sah die Teddys, unzählige von ihnen, und doch immer derselbe, nur auf die unterschiedlichste und grausamste Weise zugerichtet. Sah die Augen, die Menschenaugen, wie er seine eigenen jeden Morgen im Spiegel betrachtete. Verzweifelt. Leer. Manchmal tot. Teddys, denen das gestohlene Lächeln fremder Leben im plüschigen Gesicht eingefroren war. Jeder einzelne von ihnen ein winziges Stück seiner selbst, das er eingeschlossen und hier heruntergeworfen hatte, wann immer er sich in die Leere zurückgezogen hatte. Der Preis für seine Zuflucht. Und Jari wusste, wenn er dort hinaufkletterte, würde er all den Lügen ins Gesicht blicken müssen. Er würde von Blut besudelt sein. Und vielleicht würde er sogar ein anderer Mensch sein als zuvor.
Trotzdem begann er den Aufstieg.
***
Am nächsten Morgen wartete Nele vergeblich auf Jari. Er war einfach nicht da, nicht um halb acht an ihrem Treffpunkt unter der Linde, und auch nicht später. Und obwohl Nele viel länger wartete, als sie es sich leisten konnte, wenn sie nicht zu spät zum Unterricht kommen wollte, tauchte er nicht auf.
Nach dem zweiten Gong schließlich gab sie das Warten auf und quälte sich auf schweren Beinen die Treppe hinauf. Sie hatte sich selten so einsam gefühlt wie an diesem Morgen. Jari war nicht da, Lilly hatte auch gestern nicht angerufen, es war keine Mail von ihr gekommen, und an ihrem Handy war nur die Mailbox angegangen. Dabei hätte sie ihr so dringend von Jari erzählen wollen! Von ihrem Treffen in der Umkleide und dem Kuss an der Brücke… über all das hätte Nele nur zu gern mit ihrer Freundin gequatscht. Umso mehr, da sie ja zurzeit nicht einmal mit ihren Eltern wirklich sprechen konnte. Paps war Hunderte von Kilometern weit weg, und mit Mommi hatte Nele seit Tagen kaum mehr als drei Worte gewechselt. Außerdem war sie völlig fertig, weil sie die ganze Nacht von Traum zu Traum gewandert war, ohne zu wissen, ob sie sich so vor Seth versteckte oder nach ihm suchte. Gefunden hatte sie ihn jedenfalls nicht– und er sie auch nicht.
Die ganze erste und zweite Stunde saß Nele wie auf heißen Kohlen. Sie und Jari hätten zusammen Erdkunde gehabt, im gleichen Raum, in dem sie auch in Englisch saßen. Wo war er denn nur? Der Unterricht floss zäh an ihr vorbei wie ein endloser, schlammiger Fluss. Nele konnte nichts von dem aufnehmen, was Frau Jahnke an der Tafel erzählte, obwohl sie sich alle Mühe gab, zuzuhören. Immer wieder erwischte sie sich dabei, wie sie mit leerem Blick zur Tür starrte, als könne sie sie allein dadurch zwingen, sich zu öffnen.
Aber sie öffnete sich nicht.
Und Jari kam nicht.
In der großen Pause war Nele kurz davor, noch einmal zu versuchen, Lilly anzurufen. Die Schule fing daheim in München ein bisschen früher an als hier. Aber Lilly musste jetzt trotzdem Frühstückspause haben,
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