Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
er ihr so einen Schrecken eingejagt hatte. Spontan fühlte sie sich eher nach Letzterem. Aber ihm vor Aylin und Charlotte eine Szene zu machen, danach war ihr wiederum so gar nicht. Darum runzelte sie nur die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hey. Wo warst du denn gestern?«
Jari legte den Kopf ein wenig schief. Seine Augen leuchteten und das Grinsen hing noch immer flüchtig in seinen Mundwinkeln. Er war froh, sie zu sehen, das war offensichtlich– und das allein milderte Neles Ärger erheblich.
»Viel wichtiger«, sagte er mit einem schiefen Lächeln, »hast du nicht vergessen, mich etwas zu fragen?«
Nele musste sich sehr beherrschen, damit ihr nicht der Mund offen stehen blieb. »Ich…«
»Jari sagt, er kommt heute Nachmittag mit!« Charlottes Augen strahlten. Aber auf ihrem runden Gesicht konnte Nele einen leisen Zweifel erkennen, als könne sie es noch nicht recht glauben. Kein Wunder– Nele glaubte es auch nicht. Weder, dass Charlotte ihn offenbar tatsächlich selbst gefragt, noch dass er Ja gesagt hatte.
Aber Jari ließ ihr keine Zeit zum Grübeln. »Klar doch. Wird sicher lustig.« Er grinste, rückte seine Tasche zurecht und fuhr sich durch die strubbeligen Haare. »Na komm, wir sind spät dran. Du weißt schon, Chemie.« Er verdrehte vielsagend die Augen. Dann blinzelte er Aylin und Charlotte zu. »Wir sehen euch später!«
Damit packte er Nele einfach am Arm und zog sie mit sich in Richtung des naturwissenschaftlichen Trakts, der auf der anderen Seite des Hofs dem Hauptgebäude gegenüberlag. Nele war zu perplex, um sich zu wehren– zumal Jari sie, kaum dass sie um die Ecke waren, schon wieder losließ und die Hände in die Taschen schob, als wäre nichts gewesen. Entgeistert beobachtete Nele ihn von der Seite. Inzwischen war sie viel zu verblüfft, um auch nur noch genug Luft für ihren Ärger zu haben. Was war nur in ihn gefahren? Jari hielt unter halb geschlossenen Lidern sein Gesicht in die Morgensonne und machte alles in allem einen bemerkenswert zufriedenen Eindruck. Nele war völlig verwirrt. Und irgendwie glaubte sie auch von Sekunde zu Sekunde weniger, dass er krank– oder fort– gewesen war. Er ist weg, hatte seine Mutter gesagt. Aber was hatte sie bloß damit gemeint?
»Jari…«, versuchte sie es noch einmal, wobei sie sich sehr bemühte, ihre Stimme ruhig und sachlich zu halten. »Willst du mir echt nicht sagen, was gestern los war? Ich hab mir Sorgen gemacht.«
Jari blieb stehen, direkt vor dem Eingang zum naturwissenschaftlichen Trakt. Das Grinsen war von seinem Gesicht verschwunden, und der Blick, mit dem er Nele nun ansah, war ernst und ziemlich eindringlich. Aber seine Augen funkelten.
»Es hat sich alles geändert«, sagte er nur. »Kommst du?« Dann schlüpfte er an ihr vorbei ins Gebäude.
Nele folgte ihm ein wenig langsamer. Sie fühlte sich schwindelig von dem Kampf, den Verwirrung, Erleichterung und Ärger in ihrem Kopf austrugen– und in ihr wuchs die Befürchtung, dass sie sich heute nicht zum letzten Mal über Jari gewundert haben sollte.
Im Chemieraum steuerte Jari geradewegs die erste Reihe an. Nele überlegte einen Moment, ob sie sich das wirklich antun wollte. Sie war noch nie eine Erste-Reihe-Sitzerin gewesen, und sie hatte wirklich nicht vor, eine zu werden. Aber sie wollte zu dringend eine Erklärung für Jaris plötzlichen Sinneswandel, um ihn jetzt entwischen zu lassen. Im Entwischen war er gut, wenn man ihn ließ, das wusste sie ja mittlerweile. Und bei meinem Glück, dachte sie sarkastisch, hat sich vermutlich ausgerechnet das seit vorgestern nicht geändert. Also setzte sie sich neben ihn, obwohl die zwei Jungs, die für gewöhnlich diese Plätze belegten, sie ein wenig schräg anschauten.
Allzu viel Zeit, sich einen Kopf darüber zu machen, hatte sie aber nicht, denn in diesem Moment betrat auch schon Herr Köster den Raum, mit dem gleichen leichenblassen, verknautschten Gesicht, das er schon am Dienstag zur Schau getragen hatte. Pflichtschuldig holte Nele ihre Unterlagen aus dem Rucksack.
Jari allerdings schien von dieser Idee heute nichts zu halten. Er lehnte sich bloß in seinem Stuhl zurück und wippte mit der Lehne, während er den Lehrer mit aufmerksamem Blick verfolgte, als gelte es jede noch so winzige Bewegung zu beobachten.
Herr Köster schien davon zunächst keine Notiz zu nehmen. Er ließ seinen trüben Blick über die Kursteilnehmer wandern und begann mit einer Stimme zu sprechen, die für einen frühen Freitagmorgen
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