Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
verschlafen!«
Mit einem Schlag war Nele hellwach. »Wie spät ist es?« Sie setzte sich hastig auf, obwohl ihre Glieder sich noch seltsam taub anfühlten.
»Gleich sieben. Los, raus aus den Federn! Ich fahre dich!«
Mühsam versuchte Nele, ihren Kopf und Körper in Gang zu bekommen. »Aber dann bist du doch noch später dran…«
»Das ist jetzt egal, ich bin sowieso mehr als überfällig. Aber ich werde nicht zulassen, dass du dich noch innerhalb der ersten Woche in der neuen Schule verspätest, wenn ich es verhindern kann.« Mommi stand auf und ging zum Fenster, um die Rollläden hochzuziehen. Das erste blasse Sonnenlicht fiel Nele direkt ins Gesicht, und als ihre Mutter auch noch das Fenster aufriss, drangen Vogelstimmen und ein Schwall klarer Luft ins Zimmer, die nach feuchter Erde und Frühling roch. Aber ihre Mutter ließ ihr keine Zeit, sich über den Himmel zu freuen, der heute richtig blau zu werden versprach, sobald sich der diesige Schleier verzogen hatte. Sie klatschte resolut in die Hände. »Auf geht’s, ich erwarte dich in zehn Minuten an der Haustür!«
Und schon war sie aus dem Zimmer gerauscht.
Nele stolperte aus dem Bett in ihre Klamotten, kämmte sich mit den Fingern die Haare und zwängte die struppigen Strähnen in ein Zopfgummi, damit sie wenigstens nicht allzu sehr von ihrem Kopf abstanden. Im Bad vollzog sie eine Blitzwäsche in Rekordzeit und stand tatsächlich um zehn nach sieben an der Haustür stramm, gerade als ihre Mutter, nun makellos aus dem Ei gepellt wie jeden Morgen, aus dem Wohnzimmer stürmte. Eines Tages, dachte Nele, musste Mommi ihr unbedingt beibringen, wie man sich innerhalb so kurzer Zeit von einem verschlafenen Knäuel in eine strahlende Powerfrau verwandelte. Vermutlich musste sie dafür allerdings erst noch lernen, wie eine besengte Sau Auto zu fahren, denn das gehörte ganz sicher dazu. Nele betete jedenfalls schon jetzt, dass sie die bevorstehende Höllenfahrt heil überstehen würde. Denn eine Höllenfahrt– das wurde es mit Mommi immer.
Als Nele um zwanzig vor acht, und damit nur knappe zehn Minuten später als üblich, aus dem Auto kletterte, war sie immerhin endlich richtig wach. Ihre Mutter ließ sich kaum Zeit, ihr eine letzte Kusshand zuzuwerfen, dann brauste sie auch schon davon und ließ Nele im Strom der Schüler stehen, die auf den nach wie vor gut verborgenen Haupteingang des Franziskus-Gymnasiums zuliefen. Nele wischte sich den letzten Rest Schlafdreck aus den Augenwinkeln, schulterte ihren Rucksack und machte sich dann mit angemessen gelassenen Schritten ebenfalls auf den Weg. Um halb acht war sie mit Aylin und Charlotte an den Fahrradständern verabredet gewesen. Und ihre Verspätung war zwar deutlich, aber nun auch nicht so groß, dass sie es nötig hatte, abgehetzt zu erscheinen.
Doch als sie um die Ecke bog, machte ihr Herz einen Satz, und sie blieb wie angewurzelt stehen.
Aylin und Charlotte warteten, wie vermutet, schon am Treffpunkt. Aber sie waren nicht allein. Bei ihnen, die Daumen locker in die Taschen seiner zerschlissenen Jeans gehakt, stand Jari. Er plauderte offenbar ganz lässig über irgendetwas, das Nele von ihrem Standpunkt aus noch nicht verstehen konnte, während Aylin und Charlotte wie gebannt an seinen Lippen hingen und ihn mit einer Mischung aus Erschütterung und Faszination anstarrten. Nele fürchtete, dass ihr eigener Gesichtsausdruck dem in nichts nachstand. Jari! Er war da– einfach so, als wäre nichts gewesen. Und das, nachdem Nele gestern diese gruselige Begegnung mit seiner Mutter überstanden und die ganze Nacht nach ihm gesucht hatte! Und er redete mit anderen Menschen!
Als hätte er Neles Gedanken gespürt, wandte Jari sich genau in diesem Augenblick in ihre Richtung und sah sie an. Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht und er hob grüßend die Hand. Nele schluckte mühsam und versuchte, ihre Mimik wieder unter Kontrolle zu bringen. Nur war das viel schwieriger, als ihr lieb war.
Dann aber straffte sie entschlossen die Schultern und marschierte auf die drei zu.
»Guten Morgen«, sagte sie so locker wie möglich, als sie neben Aylin stehen blieb und einen Blick von einem zum anderen warf.
Aylin räusperte sich. »Morgen, Nele.«
»Du bist spät«, setzte Charlotte hinzu.
»Äh, ja. Sorry. Ich hab ein bisschen verschlafen«, erklärte Nele. Dann sah sie zu Jari, unschlüssig, ob sie sich gerade wie verrückt freute, dass er wieder aufgetaucht war, oder ob sie ihn wütend anfahren wollte, weil
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