Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Beer
Vom Netzwerk:
viel zu eintönig war.
    »Also, wir haben am Dienstag die Reaktivität und spezifische Flammenfärbung der Alkalimetalle besprochen und uns die Reaktion von Lithium mit Wasser angesehen. Als Hausaufgabe habe ich euch gegeben, die entsprechenden Reaktionsgleichungen mit Natrium und Kalium aufzustellen. Wer schreibt die bitte einmal an die Tafel?«
    Wie erwartet, schlug ihm Schweigen entgegen. Niemand rührte sich. Genauso war auch am Dienstag die komplette Stunde verlaufen– und Nele ahnte bereits, wie es jetzt weitergehen würde. Neben ihr spannte sich Jari fast unmerklich an, und Nele warf ihm einen schnellen Blick zu. Er hatte sich noch immer im Stuhl zurückgelehnt, die Augen fest auf Herrn Köster gerichtet. Seine Arme baumelten eine Spur zu locker rechts und links der Lehne herab. Es war beinahe unheimlich, mit was für einer Hingabe er den Lehrer fixierte, als seien sie die einzigen Menschen im Raum.
    Dann trafen sich ihre Blicke. Herr Kösters Brauen zogen sich irritiert zusammen, doch anscheinend genügte intensives Anstarren nicht, um ihn vom Kurs abzubringen. »Jari, bitte.«
    Etliche Sekunden lang tat Jari gar nichts, starrte Herrn Köster nur weiter unverwandt an, als wolle er warten, bis wirklich jeder im Raum ihm die volle Aufmerksamkeit schenkte. Dann aber breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, bei dem Nele unwillkürlich ein Schauer den Rücken hinunterlief. Aufreizend langsam stand er auf, schob seinen Stuhl zurück– und sprang aus dem Stand mit einem einzigen, geschmeidigen Satz über den Tisch hinweg, als wäre der nicht höher als eine Bordsteinkante. Ein Raunen und Murmeln ging durch den Raum, das auch Nele nicht ausschloss. Aber Jari gab zumindest vor, sich nicht darum zu scheren. Mit federnden Schritten ging er zur Tafel, griff nach der Kreide und setzte sie an.
    Doch was er dann schrieb, war mitnichten eine chemische Gleichung. Unter Jaris schwungvollen Strichen erschien mit großen Buchstaben ein einziger Satz. Weiß auf dunkelgrün, klar und deutlich für jeden im Klassenzimmer lesbar.
    DU MICH AUCH !
    Nele traute ihren Augen nicht. Und dem Rest des Kurses ging es offenbar ähnlich. Endlose Sekunden herrschte Totenstille, während Jari sich seelenruhig umdrehte und die Kreide zurück auf das Pult legte, im Gesicht noch immer eine Spur dieses Lächelns.
    Dann aber kam Leben in Herrn Köster. Er lief so puterrot an, wie Nele es bei seiner fahlen Haut niemals für möglich gehalten hätte. Sein Mund klappte mehrmals auf und zu, als steckte ihm der Wutausbruch im Hals fest und ließe die Worte nicht mehr vorbei.
    »Das ist doch…!«, stieß er endlich hervor. »So nicht, mein Freund, so nicht! Wir gehen zusammen zum Rektor. Und zwar auf der Stelle!«
    Verhaltenes Kichern erklang von irgendwo im Raum, verstummte aber sofort.
    Jari schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und zuckte die Schultern. »Klar. Warum nicht.«
    Herr Kösters Adamsapfel zuckte und hüpfte, als müsse er schwer an einigen Dingen schlucken, die für einen Lehrer wirklich unpassend zu sagen gewesen wären. »Ihr lest solange den Text über Redoxreaktionen auf Seite fünfundsiebzig. Und ich verlange, dass die Hausaufgabe zu heute korrekt an der Tafel steht, wenn ich wiederkomme!«
    Damit drehte er sich um und schritt auf steifen Beinen zur Tür. Jari schlenderte, die Hände noch immer in den Taschen, hinter ihm her. Auf der Schwelle aber warf er noch einen kurzen Blick über die Schulter zurück, direkt zu Nele– und zwinkerte ihr zu.
    Dann schloss sich die Tür hinter ihm.
    Den Rest der Chemiestunde verbrachte Nele in einem mehr oder weniger benebelten Zustand. Das alles erschien ihr viel zu abgedreht, um es wirklich zu begreifen. Ein bisschen wie ein Traum. Aber wenn Nele eins im Leben wusste, dann war es, wann sie träumte und wann nicht. Wäre es ein Traum gewesen, hätte sie jetzt einfach entscheiden können, aufzuwachen – in einer Realität, in der Jari vielleicht immer noch verschwunden, dafür aber wenigstens nicht komplett durchgeknallt war. Aber es war kein Traum. Und so blieb nur die Schlussfolgerung, dass irgendetwas am Tag zuvor geschehen sein musste, das ihn vollkommen von innen nach außen gekrempelt hatte. Nele jedenfalls war nicht der Grund, so viel war sicher. Auch wenn das außer ihr vermutlich niemand so sehen würde. Um sie herum wurde getuschelt und gekichert, und sie konnte trotz aller Mühen nicht völlig ausblenden, dass immer wieder Blicke in ihre Richtung huschten. Oder dass

Weitere Kostenlose Bücher