Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Sie hatten inzwischen die Fahrradständer erreicht, der letzte Gabelungspunkt zwischen Hof und dem Weg zurück zur Straße und Jaris Wohnsiedlung. »Du hast gleich Mathe.«
Jari aber lachte nur leise. »So genau weißt du das also.« Er musterte Nele mit diesem winzigen, überlegenen Lächeln, das ihr heute schon einmal einen Schauer über die Haut gejagt hatte.
»Ich habe noch etwas zu erledigen«, erklärte er dann, als wäre es vollkommen selbstverständlich, dass es in seinem Leben plötzlich Dinge gab, die weitaus wichtiger waren als seine Anwesenheit in der Schule– und die damit verbundenen guten Noten. »Keine Sorge, wir sehen uns ja nachher bei deiner AG .«
Es lag Nele auf der Zunge zu sagen, dass das nicht ihre AG war, und dass sie inzwischen eigentlich jede Lust verlassen hatte, daran teilzunehmen. Das war einfach alles ein bisschen viel auf einmal.
Aber sie kam nicht dazu.
Denn bevor sie so recht begriff, was geschah, hatte Jari sich vorgebeugt und ihr einen federleichten Kuss auf die Stirn gegeben, so flüchtig, dass Nele es erst wirklich realisierte, als es schon vorbei war.
»Bis später, Nele«, sagte er sanft, während sie noch mit offenem Mund dastand und sich zu entscheiden versuchte, was sie nun tun sollte. »Es war schön, dich wiederzusehen.«
Und noch ehe Nele wenigstens etwas einfallen konnte, was sie darauf hätte erwidern können, war er auch schon weg und verschwand den Weg hinunter in Richtung Straße– flüchtig wie eh und je.
Für einen Moment wollte Nele ihm nachlaufen, ihn zurückhalten und endlich zur Rede stellen. Was war denn bloß in ihn gefahren? Erst benahm er sich wie ein Verrückter, dann als hätte der Abend auf der Brücke nie stattgefunden– und jetzt das? Was sollte das alles? Aber ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen, und ihre Zunge erst recht nicht. Also blieb sie stehen, völlig verwirrt und so verunsichert wie schon lange nicht mehr. Ihre Wangen brannten, und dort, wo Jari sie geküsst hatte, auch ihre Stirn. In ihrem Magen zog, zerrte und kribbelte es, und Nele schüttelte sich, um dieses grässliche Gefühl loszuwerden. Jari war inzwischen endgültig aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie würde ihn nicht mehr einholen, selbst wenn sie es versuchte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als sich auf den Weg in Richtung Haupteingang zu machen und sich den Blicken und Fragen ihrer Mitschüler zu stellen, von denen sie ganz sicher so einige zu erwarten hatte– zumal die Büsche bei den Fahrradständern sie zwar ein wenig abgeschirmt, doch längst nicht vor allen neugierigen Augen verborgen hatten. Aber wegzulaufen war schlicht unmöglich, daher ging Nele lieber gleich in ihr Verderben.
Irgendwann musste sie es ja tun.
»Und du bist wirklich sicher, dass du mitkommen willst?«
Svea strich sich eine aschblonde Strähne aus der Stirn und musterte Nele unter gehobenen Brauen. »Selbstverständlich«, erklärte sie gelassen. »Ich dachte, das hätte ich deutlich genug gesagt.«
Nele seufzte ergeben. Sie standen auf dem Bahnsteig in der U-Bahnstation und warteten auf die Bahn, die sie hinaus aus der Innenstadt in den Stadtteil Moekenbeck bringen sollte, wo Frau Kraft wohnte– jene Lehrerin, die die Foto-Kunst- AG leitete. Und eigentlich, dachte Nele, sollte Jari derjenige sein, der in diesem Augenblick neben ihr stand und sich darüber wunderte, dass eine AG so privat bei einer Lehrerin daheim stattfand. Nicht dieses Mädchen, mit dem Nele von sich aus niemals mehr als eine flüchtige Begrüßung ausgetauscht hätte. Für gewöhnlich gehörten Menschen mit manikürten Fingernägeln und gezupften Brauen, die obendrein offenbar noch unerhört fleißig und ehrgeizig waren und immer eine Spur zu perfekt wirkten, nicht zu dem Personenkreis, mit dem sie sich schnell zusammenfand.
Aber Svea sah das anders. Sie war an jenem Mittwochmorgen, als sie hinter Jari und Nele das Schulgebäude betreten hatte, nicht zum letzten Mal auf Nele aufmerksam geworden– zumindest hatte sie das gesagt. Es war, so sagte sie, ein wahres Wunder, dass Jari mehr als zwei Sätze am Stück mit ihr sprach. Nele sei die erste seit Jahren, die das geschafft hatte, und Svea musste es wissen. Schließlich kannte sie Jari schon seit dem Kindergarten. Heute hatte sie dann beobachtet, wie Jari Aylin und Charlotte um den Finger wickelte. Und sie hatte gesehen, wie er Nele geküsst hatte, ehe er verschwand. Dadurch war ihre Neugier endgültig geweckt. Sie wollte wissen, was für ein Mensch Nele
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