Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
den Couchtisch.
»Nele?« Lillys Stimme hatte etwas Drängendes.
»Nein, es ging«, sagte Nele endlich. »Nur ein bisschen anstrengend.« Und das stimmte sogar.
»War der Typ wieder da?«
»Mmh-mmh«, machte Nele abwehrend und lehnte sich zurück in die dicken Polster. Von hier aus konnte sie dem Regen zusehen, wie er an der Verandatür hinunterlief. Sie wollte jetzt nicht an Seth denken. Die ganze Zeit ging ihr der aufwühlende Besuch bei Jaris Mutter im Kopf herum. Aber sie hätte nicht gewusst, wie sie das in Worte fassen sollte. Ich darf mich nicht verrückt machen, dachte sie und wusste gleich, dass es sinnlos war, sich zu ermahnen. Dabei konnte es tausend logische Gründe haben, warum Jari heute nicht in der Schule gewesen war. Wenn er sich nur nicht wieder mit seinem Vater gestritten hatte…
»Ich habe ihn weggeschickt«, zwang sie sich zu sagen, als ihr aufging, dass Lilly offenbar auf eine ausführlichere Antwort wartete. »Und letzte Nacht habe ich ihn nicht gesehen.«
»Echt komisch.« Lilly klang nachdenklich– und noch immer ziemlich besorgt. »Was ist das denn für einer? Ein Mensch?«
Nele legte die Füße ebenfalls auf die Couch und zog die Wolldecke darüber, die über der Armlehne lag. Lilly hatte extra angerufen, weil sie sich sorgte. Und rational betrachtet war es auf jeden Fall gut, wenn sie mit jemandem über Seth sprach. Sie sollte sich jetzt wirklich zusammenreißen. »Nein, ich glaube nicht. Ich meine, er sieht in etwa wie ein Mensch aus, aber eigentlich auch wieder nicht. Seine Haut ist wie aus Milchglas, aber schwarz, und er hat total krasse Augen– flüssiges Gold. Wenn er sich bewegt, oder von seinem Blick her, hat er eher etwas von…« Sie stockte erschrocken, als ihr klar wurde, was sie gerade im Begriff war zu sagen. »…einer Katze«, schloss sie tonlos.
Von einem Wimpernschlag zum nächsten stand ihr plötzlich wieder in aller Klarheit das Bild des Katers auf ihrem Balkon vor Augen. Das Gefühl, ihn von irgendwoher kennen zu müssen, prickelte in ihrem Magen. Und jetzt wusste Nele auch, woher es kam. Seth und der Kater! Sie waren sich zum Verwechseln ähnlich! Das konnte einfach kein Zufall sein. Aber wie war das denn möglich? Sie hatte doch schon von Seth geträumt, bevor sie das Tier zum ersten Mal gesehen hatte… Nele spürte, wie sich in ihrem Nacken und auf ihren Armen alle Härchen aufrichteten. Und nun plötzlich war es das Problem mit Jari, das in den Hintergrund rückte. Seth lief als Katze hier in der Realität herum? Das konnte einfach nicht wahr sein!
»Nele?« Lillys Stimme klang nun sehr besorgt. »Süße, ist alles okay?«
Nele schluckte. Es tat so gut, mit Lilly zu reden! Warum nur war sie so weit weg? Ohne dass sie es wollte, stiegen Nele Tränen in die Augen. Sie hatte Heimweh. Verdammtes Heimweh.
»Du fehlst mir«, sagte sie bloß und wusste, dass es jämmerlich klang. »Du fehlst mir so…«
»Ich weiß«, flüsterte Lilly am anderen Ende, und Nele hörte, dass auch sie kurz davor war zu heulen. »Du mir doch auch!«
Nele wischte sich über die Augen, obwohl sie damit nur bewirkte, dass sie noch unerträglicher brannten. »Er hat gesagt, er will mich mitnehmen, weißt du. Aber ich will das nicht! In der letzten Nacht war er ja nicht da, aber ich habe Angst, dass ich mich nicht ewig vor ihm verstecken kann. Dass ich wieder in seinem Revier lande, obwohl ich es nicht will, und dass er mich dann vielleicht einfach zwingt, mitzukommen. Und dann wieder denke ich, ich will ihn aber wiedersehen! Das ist so dumm, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll!«
Lilly schwieg einen Augenblick. Nele hörte sie leise schniefen, obwohl Lilly sich ganz offenbar Mühe gab, es vor ihr zu verbergen.
»Dieses Revier. Sein Revier. War es… wie das Spiegellabyrinth?«, fragte sie endlich leise.
Nele spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Ihr Herz begann zu flattern, und als sie einatmete, zitterte die Luft in ihren Lungen, dass es beinahe schmerzhaft war. Es war jetzt so lange her, und noch immer konnte sie nicht an das Labyrinth zurückdenken, ohne in Panik zu verfallen. Sie hatte Jari davon erzählt. Jari, der jetzt verschwunden war…
Oh nein. Diesen Gedanken durfte sie nicht zu Ende denken.
»Nein«, wiederholte sie laut und bemerkte besorgt, wie dünn ihre Stimme klang. »Nein, gar nicht. Es war…« Nele schloss die Augen und dachte an ihre erste Nacht in diesem neuen Haus zurück. Und sonderbarerweise gab ihr der Gedanke ganz unvermittelt ein wenig
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