Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Ruhe zurück. Das Bild des lichtfunkelnden Nachthimmels glättete die Wogen in ihrem Inneren und besänftigte das nervöse Blubbern in ihrem Magen. »Es war ein riesiger leerer Raum, mit unendlich vielen Sternen. Als würde ich mitten im Weltraum stehen, auf einer Insel aus Schnee und Glas.«
Lilly erwiderte nichts darauf. Aber ihr Schweigen war unruhig.
»Hast du es deinen Eltern erzählt?«, fragte sie schließlich, weil Nele ebenfalls stumm blieb.
»Nein.« Nele zog die Knie an die Brust. »Noch nicht.«
»Sie müssen es wissen.«
»Ich weiß.« Nele biss sich auf die Unterlippe und schmeckte das verkrustete Blut an ihrem Piercing– eine unfreiwillige Erinnerung an die Begegnung mit Jaris Mutter. »Aber sie sind ja nicht da.«
Ein leises Seufzen war die Antwort. »Versprich mir, dass du mit deiner Mama redest. Bitte. Ich will nicht, dass du dort allein bist, und ich kann erst in den Osterferien kommen.«
»Ich weiß«, wiederholte Nele. Aber mehr als ein resigniertes Murmeln wurde nicht daraus. Mit Mommi sprechen. Ja, das musste sie wohl versuchen, wenn diese einmal gerade nicht arbeitete oder schlief. Aber Nele machte sich keine großen Hoffnungen, dass es vor dem Wochenende dazu kommen würde. Die erste Woche war die schlimmste, dann würde es besser werden– das hatte Mommi schon vor Monaten prophezeit. Und Nele wollte ihr da nicht auch noch diesen zusätzlichen Stress aufbürden. Das war einer der wichtigsten Gründe, warum Nele sich Jari anvertraut hatte. Jari, der jetzt auch nicht mehr da war… Nun hätte Nele fast wirklich angefangen, zu heulen.
»Du, ich muss jetzt los.« Lilly klang sehr widerwillig. »Du weißt ja, Literatur.«
Der Kloß in Neles Kehle wuchs. Richtig. Donnerstagnachmittags lief am Gymnasium in München der Literaturkurs. Bis vor einer Woche auch noch für Nele. Jetzt nur noch für alle anderen.
»Ich ruf dich morgen wieder an, okay?« Lilly versuchte, aufmunternd zu klingen. »Halt die Ohren steif, Nelefant.«
Nele bemühte sich um ein Lachen, auch wenn es dünn geriet. »Na klar. Danke, dass du angerufen hast, du Liebste. Bis morgen.«
»Bis morgen. Tschau!«
Ein Klicken in der Leitung. Dann war Lilly weg.
Nele blieb auf dem Sofa liegen, das Telefon in der Hand. Ihr Magen knurrte, aber sie konnte sich einfach nicht aufraffen, sich um etwas zu essen zu kümmern. Oder den Boden zu wischen, auf dem sicher noch deutliche Spuren ihrer schmutzig nassen Schuhe zu sehen waren.
Sie hatten nicht mehr über Jari reden können.
Nele griff nach einem Sofakissen und drückte es sich aufs Gesicht. Das Geräusch ihres Atems im dicken Stoff beruhigte sie ein wenig, aber viel besser fühlte sie sich trotzdem nicht. Jari. Sein Verschwinden drückte ihr nun wieder mit voller Wucht auf den Magen, und sie wusste nicht, wie sie das auch nur eine Sekunde länger allein mit sich herumtragen sollte. Aber es war zu spät, Lilly war weg. Und nur zu gern hätte Nele sich selbst eingeredet, dass sie sich wirklich viel zu viele unnötige Sorgen machte. Aber es gelang ihr einfach nicht.
In dieser Nacht schlief Nele sehr schlecht. Sie träumte sich in Jaris Wohnung, und obwohl ihr natürlich klar war, dass es nur ein Traum war, dass der Flur niemals so lang gewesen sein konnte, verließ sie ihn nicht. Sie öffnete eine Tür nach der anderen, durchsuchte die muffigen, düsteren Zimmer verzweifelt nach einer Spur von Jari– vergeblich. Je länger Nele suchte, desto weiter streckte sich vor ihr der enge Flur, erschienen immer neue Türen zu neuen, erdrückenden Räumen, in denen Jaris Mutter wie ein blasser Geist umherwandelte. Manchmal sah sie Nele an, mit diesem hilflosen Blick, der ihr bis tief in die Seele drang, und sagte ihr wieder und wieder, dass sie Jari hier nicht finden könne. Aber Nele weigerte sich, es zu glauben. Sie suchte und suchte, die ganze Nacht lang.
Aber sie fand ihn nicht.
Stattdessen verschlief sie.
»Leni!«
Mommis Stimme erreichte sie wie aus weiter Ferne. Undeutlich spürte sie die Hand ihrer Mutter, die sanft, aber unerbittlich an ihrer Schulter rüttelte.
»Leni, wach auf!«
Nele blinzelte. Es brauchte eine Weile, bis der schummrige Flur, in dem sie die Nacht verbracht hatte, sich nicht mehr mit ihrem in warmem Gelb erhellten Zimmer mischen wollte.
»Was?«, murmelte sie verwirrt und drehte sich schwerfällig um. Mommi saß auf der Bettkante, das Gesicht noch ein wenig knittrig vor Müdigkeit. In ihren Augen aber leuchtete unterschwellige Panik.
»Wir haben
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