Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Seine ganze Haltung strahlte noch immer Schuldbewusstsein aus– doch als seine Augen Neles trafen, zuckte sie unwillkürlich zusammen. In seiner Iris, hellgrau noch selbst im schwachen Licht, funkelte für den Bruchteil einer Sekunde ein Lächeln, das sie kannte. Ein schalkhaftes, geradezu spitzbübisches Lächeln, das seine Lippen nicht erreichte, ehe es wieder verschwand. Es war fremd auf Jaris Gesicht– und doch schien es Nele geradezu unheimlich vertraut.
»Ja. Ich fürchte, du hast recht.« Auch in Jaris Stimme war das Lächeln nicht angekommen. Hatte sie sich doch getäuscht? Nele wurde ein bisschen schwindelig.
»Aber die Geschichte ist zu lang, um sie hier draußen zu erzählen«, fuhr Jari fort. Sein Tonfall war nun fast flehend. »Lass mich rein, Nele, bitte. Ich brauche deine Hilfe! Wenn du mich reinlässt, sage ich dir alles. Ich verspreche es dir!«
Nele spürte, wie sich in ihrem Nacken ein feiner Schweißfilm bildete. Ihre Hände und Knie fühlten sich plötzlich ganz zittrig an. Was sollte sie nun tun? Jari sah wirklich mitgenommen aus. Natürlich wollte sie ihm helfen. Und gleichzeitig warnte ein Kribbeln tief in ihrem Magen sie eindringlich davor, ihm den Weg freizugeben.
»Wenn du’s nicht tust«, sagte sie und trat einen Schritt zurück, »werfe ich dich hochkant wieder raus. Meine Mutter kommt bald nach Hause. Und mit der möchtest du dich nicht anlegen, glaub mir.«
Jaris Mundwinkel verzogen sich eine Winzigkeit nach oben. »Selbstverständlich. Versprochen ist versprochen.«
Und damit schlüpfte er auch schon an Nele vorbei, zog sie zwei Schritte in den Raum hinein und drückte die Balkontür hinter ihnen ins Schloss.
Sechstes Kapitel
Die Glashalle war voller Katzen.
Tora, Erste Wächterin der Träume in Erlfeld, und eine von Faes engsten Vertrauten, stand auf ihrem Platz auf der zweituntersten Stufe des Throns und ließ den Blick wachsam über die unruhige Menge schweifen. Es geschah nicht oft, dass Fae eine große Versammlung einberief, und das aus gutem Grund. Die einzelgängerischen Katzen ertrugen es kaum, auf so engem Raum beisammen sein zu müssen, ohne sich gegenseitig anzufauchen und Streitigkeiten zu beginnen. Dennoch mussten an diesem Tag sämtliche Wächter der Region anwesend sein. Vielleicht sogar Vertreter aus den angrenzenden Gebieten, denn es drängten sich immer mehr Katzen in die bereits zum Bersten gefüllte Halle. Sie alle hatten die Erschütterung des Nachtglases gespürt. Seitdem war es ruhig geblieben, doch jetzt erinnerte sich zweifellos jeder Einzelne von ihnen daran. Was war geschehen?
Auch Tora war unruhig, aber nicht, weil die Gegenwart der anderen Katzen sie nervös machte. Die waren ihr mehr als gleichgültig. Aber sie hatte in das Gesicht ihrer Göttin gesehen, das auf den ersten Blick reglos und glatt wie immer schien. Tora allerdings war lange genug Faes Vertraute gewesen, um die schwelende Glut zu erkennen, die dahinter glomm. Es gab ein Problem, ein großes sogar. Und natürlich war Tora aufgefallen, dass ein ganz bestimmter Kater, der in ihren Augen einen viel zu hohen Status vor der Göttin genoss, sich nicht bei dieser Versammlung blicken ließ. Tora konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob das eine mit dem anderen irgendwie zusammenhing. Doch solange Hunderte Augenpaare auf Fae ruhten, war die Gelegenheit für ein privates Gespräch denkbar ungünstig. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als abzuwarten. Abzuwarten und zu lauschen.
Mit einem singenden Laut, einem tiefen Glockenschlag gleich, schlossen sich die gläsernen Türen. Tora spannte sich innerlich an. Das Raunen und Murmeln verstummte, als Fae sich langsam von ihrem Thron erhob. Die Versammlung hatte begonnen.
»Wächter!« Faes Stimme trieb die Luft um wie ein Windstoß. Auch die letzte Bewegung der Menge verebbte. »Es hat sich in unserem Revier etwas ereignet, von dem ihr alle wissen müsst.« Fae machte eine Pause, als wolle sie sich noch einmal vergewissern, dass ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Untergebenen zukam. Nicht dass das nötig gewesen wäre. Die Stimme der Göttin klang ruhig, unaufgeregt. Und trotzdem, oder gerade deswegen, schlugen ihre nächsten Worte zwischen die wartenden Katzen wie ein Blitz.
»Ein Träumer hat sich in der zweiten Ebene verirrt. Und ich spreche hier nicht von einem Teil seiner Persönlichkeit. Es geht nicht um ein Traum-Ich, das er vergessen und zu einem Traum verblassen lassen könnte. Nein, es ist viel schlimmer. Er ist vollständig
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