Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Nele auf das Licht der Deckenlampe. Ihr war einfach nach etwas Dunkelheit und Ruhe. Mit einem erleichterten Seufzer kickte sie die Tür mit der Ferse hinter sich ins Schloss und warf ihren Rucksack ein Stück weit in die ungefähre Richtung ihres Schreibtischs. Dann ließ sie sich schwer auf ihr Bett fallen, das noch völlig zerwühlt war von ihrem überhasteten Aufbruch am Morgen. Etliche Sekunden lang blieb sie so liegen, lauschte ihrem Atem und dem Rauschen und Gluckern der Heizung und starrte an die blanke Wand gegenüber. Sie musste wirklich bald ein paar Poster und Postkarten aufhängen. Dieser Raum fühlte sich einfach noch viel zu sehr nach Hotelzimmer an. Nele seufzte und schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie würde ganz bestimmt nicht mehr heute damit anfangen, an ihrer Einrichtung herumzuwerkeln. Es war höchste Zeit für ein Gespräch mit Lilly. Fast blind tippte sie die Nummer ihrer Freundin und hob das Telefon ans Ohr.
In diesem Moment klopfte es an ihrer Balkontür.
Nele fuhr heftig zusammen und setzte sich auf. Das Telefon wählte mit kurzen Pieptönen die eingegebenen Ziffern.
»Nele?«
Die gedämpfte Stimme kam von draußen, so leise, dass sie fast unhörbar war. Reflexartig drückte Nele auf den Knopf, um die Verbindung zu unterbrechen. Vor den Fenstern war es inzwischen fast völlig dunkel. Die Balkontür verbarg sich hinter dem Blumenvorhang. Er war fast blickdicht, und Nele konnte nichts erkennen– aber war da nicht ein Schatten vor dem Schein der Straßenlaternen, die gerade aufflackerten? Aber wie sollte das gehen? Da konnte niemand auf ihrem Balkon sein, wie sollte er da hinkommen? Nele riss die Augen auf, als könne sie so im schwachen Licht besser sehen. Aber natürlich half das kein bisschen.
Da war das Klopfen wieder!
Nele schloss die Hand fest um das Telefon. Kurz dachte sie daran, die Nachttischlampe anzuschalten. Aber dann würde sie noch weniger erkennen können, was draußen los war, wogegen sie selbst umso besser sichtbar würde.
»Nele, ich weiß, dass du da bist. Mach auf. Bitte!«
Die Stimme klang nun lauter, drängender. Und jetzt endlich erkannte Nele sie auch. Als die Luft ihr mit einem Zischen entwich, bemerkte sie, dass sie schon die ganze Zeit den Atem angehalten haben musste. Mit einem Ruck stand sie auf und riss den Vorhang zur Seite.
Tatsächlich. Jari.
Nele starrte ihn an, als könne sie so ihre Augen überzeugen, die Illusion wieder verschwinden zu lassen. Vergeblich.Es war Jari, wie er leibte und lebte– auf ihrem Balkon! Neles Finger waren schweißfeucht, als sie den Griff umlegte und die Tür aufzog. »Was machst du denn hier?«
Jari versuchte ein Lächeln, das ihm allerdings nicht richtig gelang. »Ich weiß. Das sieht ziemlich komisch aus. Darf ich trotzdem reinkommen?«
Für einen Moment war Nele fast versucht, Nein zu sagen, Jari einfach wegzuschicken und die Tür wieder zuzuknallen. Für heute hatte sie wirklich mehr als genug. Wo hatte er denn den ganzen Tag gesteckt? Und warum tauchte er jetzt hier auf?
Aber etwas in seinem Blick hielt sie davon ab, ihn einfach da draußen stehen zu lassen. Sein Blick– und die Spur getrockneten Bluts auf seiner Stirn, die Nele im schwindenden Licht zuerst für Dreck gehalten hatte. Überhaupt war Jari von oben bis unten schmutzig und zerkratzt. Der rechte Ärmel seiner Jacke war entlang des Oberarms aufgeschlitzt, und seine Hose wies über dem Knie ein beachtliches Loch auf. Nele spürte, wie ihr die Kehle eng wurde bei dem Anblick.
»Was ist mit dir passiert?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ein dicker Klumpen steckte ihr im Hals, aber sie achtete nicht darauf. »War das wieder dein Vater? Und wo warst du heute Nachmittag? Was sollte das alles heute Morgen? Ich will sofort wissen, was mit dir los ist! Vorher setzt du nicht einen Schritt in mein Zimmer, kapiert?«
Jaris Schultern sackten ein Stück herab. »Es tut mir leid, Nele«, sagte er leise. »Es ist alles ganz anders, als du denkst. Ich wollte dich nicht verwirren. Wirklich nicht.«
Nele schnaufte. Es tat ihm leid– und das sollte alles sein? »Schön, hast du aber. Und du kannst wohl nicht erwarten, dass ich dich hier einfach so reinlasse, ohne dass du mir endlich erklärst, wer oder was dich plötzlich so verdreht hat. Es ist, als wärst du ein völlig anderer Mensch!« In der Aufregung geriet ihr Tonfall ziemlich harsch. Aber das war jetzt auch egal. Jari sollte ruhig merken, dass sie es ernst meinte.
Langsam hob er den Blick.
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