Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
übergetreten.«
Der plötzliche Spannungsanstieg in der Luft der Halle kribbelte wie elektrische Ladungen auf Toras Haut, und sie konnte die Gedanken der Wächter hören, als wären sie laut ausgerufen worden. Das war unfassbar! Unmöglich! Jeder der Anwesenden musste die Bedrohung spüren, die in dieser Eröffnung lag. Das Unheil wittern, das sich über ihnen zusammenbraute. Und dennoch wagte keiner, auch nur einen Laut von sich zu geben.
Bis auf eine.
»Wer war das?« Die Stimme gehörte Nera, einer jungen schwarzen Katze aus den Randgebieten. Ihre Augen sprühten vor Wut – Wut, die aus Angst geboren war. »Wer hat seine Wacht so sehr vernachlässigt, dass …?!«
Faes glasklarer Blick, eben noch unbestimmt auf der Menge ruhend, richtete sich auf Nera, die augenblicklich verstummte. Die Spannung im Saal war nun fast schmerzhaft.
»Ich habe die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen«, sagte Fae nur – und doch war jedes Wort eine unmissverständliche Warnung; eine scharfe Ermahnung an alle, nicht noch einmal anzuzweifeln, dass sie längst die wichtigsten Maßnahmen getroffen hatte. Betretenes Schweigen trieb ihr aus Richtung der jungen Katze entgegen.
»Cassiopeia«, erklärte Fae sehr ruhig, »hat ihre Strafe erhalten. Und doch: Jedem von uns hätte das passieren können. Dies ist eine Situation, auf die keiner vorbereitet gewesen wäre – auch wenn die Kleine sich viel zu leicht ablenken ließ«, setzte sie hinzu, doch so leise, dass Tora bezweifelte, ob irgendjemand außer ihr es gehört hatte. In letzter Sekunde unterdrückte Tora ein grimmiges Lächeln. Jetzt wurde ihr einiges klar. Auch, warum Seth nicht auf seinem Platz war. Cassiopeia hatte diesen verlausten Kater schon viel zu lange winselnd angeschmachtet. Damit reihte sie sich ein in eine lange Liste gebrochener Herzen, die Seths Weg säumten. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Cassi ihm zum Opfer fiel. Und nun – dieses Desaster. Durch Seths Verschulden. Denn genau das war es, was geschehen sein musste. Kein Wunder, dass er nicht hier auftauchte. Tora hoffte insgeheim, dass Fae ihm ebenfalls den Wächterstatus entzogen hatte.
»Der Grund, aus dem ich euch heute zusammengerufen habe«, fuhr Fae inzwischen fort, »ist keineswegs, euch das Fehlverhalten eines Einzelnen zum Fraß vorzuwerfen. Vielmehr ist dies eine Warnung, die eure Wachsamkeit schärfen soll. Das Nachtglas, unser Heiligstes, dessen Schutz unsere allerhöchste Aufgabe ist, ist in Gefahr. Wir können und dürfen nicht darauf vertrauen, dass der Junge von selbst zu einem Traum wird, ohne dass etwas Schreckliches geschieht, das wir nicht rückgängig machen können. Einmal ganz davon abgesehen, dass die Gefahr längst nicht gebannt ist! Dieser Übergang wurde nur möglich, weil eine Klarträumerin in Erlfeld aufgetaucht ist. Sie hat das Nachtglas berührt und es damit instabil gemacht. Solange sie hier ist, ist keines unserer Reviere sicher. Darum müsst ihr von nun an besonders gut auf die euch anvertrauten Träumer achtgeben, damit nicht noch ein Unglück geschieht.«
Zustimmendes Murmeln brandete auf, verebbte jedoch sofort, als Fae die Stimme erneut hob.
»Oberste Priorität ist es jetzt aber, den Verlorenen zu finden, und das so schnell wie möglich. Wir alle wissen, dass in der Traumwelt keine Grenzen existieren. Noch können wir hoffen, dass er sich weiterhin in seinem eigenen Umfeld aufhält, ehe er in fremde Traumreiche übertritt, aber wir können uns nicht sicher sein. Haltet also die Augen und Ohren weit offen. Wenn euch etwas Ungewöhnliches auffällt, gebt mir sofort Nachricht. Jeder Hinweis, jede gewonnene Sekunde kann entscheidend sein.«
Das Murmeln der Menge verschwamm zu einem beifälligen Raunen, und Tora glaubte zu sehen, wie jeder der Versammelten die Entfernung des eigenen Reviers zu dem von Cassiopeia abschätzte, und so auch die Wahrscheinlichkeit, den Verlorenen in den Köpfen der ihnen anvertrauten Träumer anzutreffen.
»Leider ist Cassiopeia nun nicht mehr bei uns, um den Bereich zu überwachen, in dem der Junge verloren ging.« In Faes Mundwinkeln sah Tora ein verstecktes Lächeln, das ein wenig bitter schien. Auch die Göttin wusste nur zu gut, wie bedacht auf ihre eigene Ruhe und Bequemlichkeit die meisten ihrer Untergebenen waren. Um ihre entspannten Nächte waren sie weitaus mehr besorgt als um die Frage, ob das Nachtglas vielleicht brechen würde. Fae wusste das, ebenso, wie sie wusste, wer diese Einstellung auf gleiche Weise
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