Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
war, und hatte sich deshalb kurzerhand entschlossen, sie zur AG zu begleiten. So zumindest hatte sie es Nele erklärt. Von Jari selbst hingegen fehlte nach wie vor jede Spur. Verdrehte Welt.
Auch Aylin und Charlotte schienen dieser Ansicht zu sein. Ihre Begeisterung über Sveas Anwesenheit hielt sich sichtlich in Grenzen. Aber sie hatten bisher nichts dazu gesagt, und jetzt standen sie zwei Schritte entfernt, steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise, während der Wind der ein- und ausfahrenden Bahnen ihnen um die Ohren pfiff und auch die letzten Reste ihres Gesprächs wegfegte. Aber ihre Mienen sagten genug. Außerdem waren sie alle spät dran, weil sie noch so lange auf Jari gewartet hatten– auch davon waren Aylin und Charlotte zweifelsfrei genervt. Und Nele fragte sich, ob sie wohl allmählich bereuten, gefragt zu haben, ob sie bei ihrer AG mitmachen wollte.
»Weißt du, ich will mit eigenen Augen die Zaubertricks sehen, die aus einem grauen Mäuserich einen Kerl machen, der so verdammt heiß ist«, sagte Svea derweil und grinste. »Ich wette, damit lässt sich eine Menge Geld verdienen, wenn man es richtig anstellt. Vom Dienst an der Menschheit einmal ganz abgesehen.«
Nele verkniff es sich, noch einmal darauf hinzuweisen, dass sie mit Jaris plötzlichem Wandel nichts zu tun hatte. Sie hatte das alles schon erzählt, und es schien Svea nicht einmal im Ansatz davon zu überzeugen, dass Nele unschuldig war. Nele selbst, wie sie zugeben musste, allerdings auch nicht. Was, wenn Jari sich doch durch ihren Einfluss so gewandelt hatte? Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie denken sollte. Im Grunde war sie fast froh, dass er nicht gekommen war. Ja, sie hoffte sogar, Jari würde einfach den Rest des Tages und auch das Wochenende über verschwunden bleiben und am Montag als der ruhige, nachdenkliche Junge wieder auftauchen, den Nele kennengelernt hatte. Dieser Jari fehlte ihr. Umso mehr, wenn sie an den Abend auf der Brücke dachte. Und an den Kuss.
»Jari ist aber gar nicht da«, stellte sie das Offensichtliche fest. »Da gibt’s also nichts zu sehen.«
Svea zuckte nur mit einem Lächeln die Schultern, wandte sich um und stieg als Erste in die Bahn, die in diesem Augenblick mit kreischenden Bremsen hielt.
Antwort genug.
Es wurde bereits dunkel, als Nele endlich die Haustür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Die Vorbesprechung bei der AG hatte sich erstaunlich lange hingezogen, und Nele hatte feststellen müssen, dass Aylin nicht im Geringsten übertrieb, wenn sie die ganze Sache als »verrückt« bezeichnete. Frau Kraft selbst war eine geballte Ladung Extravaganz mit leicht esoterischem Einschlag und einem überaus ansteckenden Lachen. Neles Kopf fühlte sich noch immer ein wenig benebelt an von den Räucherkerzen, die die Lehrerin dutzendweise angezündet hatte, und von ihrem süßlich-schweren Parfüm, das Nele einfach nicht aus der Nase bekam. Trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass ihr der Nachmittag in der gemütlichen Runde am Ende doch Spaß gemacht hatte– und dass sie sich auf das Wochenende freute, wenn sie gemeinsam mit Svea Erlfelds alte Leinenweberei und noch ein paar andere mögliche Settings für das geplante Projekt besichtigen würde. Sonnentänze über Erlfeld sollte es heißen, und Nele war schon sehr gespannt, wie die fertigen Bilder aussehen würden.
Im Haus war es still, Mommi musste noch bei der Arbeit sein. Nele streifte sich die Schuhe von den Füßen und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Kurz schwebte ihre Hand über dem Lichtschalter, aber dann entschied sie sich, die Deckenleuchte doch nicht anzuknipsen. Das rötliche Dämmerlicht, das durch die geöffnete Küchentür und das Fenster über der Haustür fiel, war gerade noch hell genug, dass sie alles sehen konnte, und Nele war nicht danach, die schummrig-zwielichtige Atmosphäre mit grellen Neonstrahlen zu zerstören. Sie griff also nach ihrem Rucksack und tappte auf Socken die Treppe hinauf. Auf dem kleinen Tisch im oberen Flur stand das Telefon in seiner Ladestation, und Nele nahm es kurz entschlossen mit. Sie hatte das Bedürfnis, Lilly anzurufen und ihr von den Ereignissen des Tages zu berichten. Es war ja so viel passiert, dass Nele glaubte, ihr Kopf könne nur deshalb noch nicht explodiert sein, weil der lange Aufenthalt in Frau Krafts vernebelter Wohnung alles gedämpft hatte.
Ihr Zimmer war noch dämmriger als der Flur, in dunkelviolette und aschgraue Schatten getaucht. Aber auch hier verzichtete
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