Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
seufzte ungeduldig. Was fand sie nur an diesem Jungen? Wie lange würde es wohl dauern, bis sie begriff, dass er, Seth, die tausendfach bessere Wahl war?
Nicht mehr lange, gab er sich beruhigend selbst zur Antwort. Allerhöchstens, bis das Nachtglas tatsächlich brach und er endlich wieder daheim war, befreit von diesem schweren, unbeholfenen Menschenkörper, den er mithilfe von Faes Lichtgeschenk in Besitz genommen hatte. Daheim, in einer endlosen Traumwelt ohne Nachtglas und ohne Menschen. Nur Katzen würde es dort geben, und Klarträumer, wie Fae gesagt hatte. Klarträumer wie Nele … Ein zweiter Seufzer, sehnsüchtig diesmal, stahl sich über seine Lippen. Was für eine wunderbare Vorstellung. Seth würde alles tun, was in seiner Macht stand, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. Auch wenn seine Macht, wie er sich zähneknirschend eingestehen musste, hier draußen sehr begrenzt war.
Und wenn es ihm nicht gelang? Seth schnaufte leise. Dann würde er eben diesen Körper behalten. Menschlich oder nicht – er würde bei Nele sein. Nicht Jari. Auf keinen Fall!
Neles Augen hinter den geschlossenen Lidern hatten inzwischen begonnen, sich rasch hin und her zu bewegen. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Der erste Fremdtraum in Jaris Reich hatte angefangen.
Seth rutschte noch ein bisschen näher an sie heran, bis seine Lippen federleicht an ihrer Schläfe lagen. Er würde ihr schon beweisen, wie viel besser er war als jeder Menschenjunge dieser Welt.Und sie würde sich nie wieder von ihm trennen wollen. Dafür würde Seth mit allen Mitteln sorgen.
Hinter der Tür war es viel weniger hell, als Nele gehofft hatte. Nur verschwommen konnte sie die Stufen einer langen Treppe erkennen, die sich in einer engen Spirale nach unten wand. Der schwache Schimmer, den sie schon durch den Türspalt gesehen hatte, drang den Treppenschacht hinauf, ohne ihn wirklich zu erleuchten. Nele verengte die Augen, in der dummen Hoffnung, dass ihr das helfen würde, und sah sich nach allen Seiten um. Doch auch, als sie sich endlich ein wenig an die spärlichen Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, erkannte sie nicht mehr als schon zuvor: Außer der Tür, durch die sie gekommen war, und der Treppe, die nur eine Armlänge von ihren Fußspitzen entfernt begann, gab es hier nichts. Keine Wände, keine Türen, keine Fenster. Nur Dunkelheit.
Unschlüssig blieb Nele stehen, wo sie war. Was jetzt? Einfach in die Schwärze hineinzugehen, die sich rechts und links von ihr ausbreitete, traute sie sich nicht. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass sie schon nach wenigen Schritten die Hand nicht mehr vor Augen würde sehen können– und wer wusste, ob sie dann auch nur den Weg zurück zur Treppe gefunden hätte, geschweige denn zur Tür, die aus Jaris Traumwelt herausführte? Nein, die Treppe schien vorerst bei Weitem die klügste Wahl zu sein. Außerdem war Nele neugierig, was wohl die Quelle des Lichts sein mochte, das noch immer schwach, aber stetig die Stufen beleuchtete. Nur manchmal flackerte oder zuckte es, wie eine nicht mehr ganz intakte Neonröhre. Aber dafür war es zu grau, mit nur einem ganz leichten Rotstich darin.
Was auch immer es war, hier oben würde sie es nicht herausfinden. Entschlossen setzte Nele den Fuß auf die oberste Stufe und begann den Abstieg. Sie ließ sich Zeit, tastete sich Schritt für Schritt abwärts, um auf dem unebenen, feuchten Stein nicht auszurutschen. Sie hatte keineswegs das Bedürfnis, die Treppe hinunterzukullern oder– noch schlimmer– in die Schwärze jenseits der Stufen zu stürzen.
Je weiter sie kam, desto mehr blasse Farben mischten sich in das Licht– gelb und schlammgrün und braun, und sogar ein Hauch von bläulichem Violett. Gleichzeitig wurde es ein wenig heller, sodass Nele die Unebenheiten unter ihren Füßen nicht länger nur ertasten, sondern auch sehen konnte. Doch das Licht berührte nur die Treppe und sie selbst– die Schwärze zu beiden Seiten konnte es noch immer nicht durchdringen. Hin und wieder streckte Nele probehalber den Arm zur Seite aus, doch auch zu fühlen war dort nichts. Es war, als führte die Treppe nach wie vor nur durch Leere. Dafür konnte Nele allmählich auch Geräusche hören. Ein leises Rauschen und Rascheln, wie von Wind, der durch Baumkronen strich. Nach der dritten Wendung dann wurde es schlagartig sehr viel heller, und nur wenige Schritte voraus erkannte Nele, dass eine der Stufen sich zu einem Absatz verbreiterte. Und dort, mitten in der zuvor so undurchdringlichen
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