Wenn die Schatten dich finden: Thriller (German Edition)
Streife wegfuhr. Alles unverändert.«
Noah rieb sich die Nasenwurzel, hinter der ein leichter Kopfschmerz zu pochen begann, und versuchte, sich in Mitch hineinzuversetzen. Zwischen ihnen hatte es nie diese angeblich so einzigartige Verbindung gegeben, auf die viele Zwillinge schworen. Und schon als Kind war Noah froh darüber gewesen. Das Letzte, was er wollte, war, sich in Mitchs krankes, verdrehtes Gehirn einzufühlen. Jetzt allerdings würde er zehn Jahre seines Lebens geben, könnte er erahnen, wie sein Bruder tickte.
Mitch war böse, das konnte niemand leugnen, aber er war auch schlau. Würde er sich eine Weile ruhig verhalten, ehe er sich Samara holte? Würde er einfach das Land verlassen, um seine Verluste zu begrenzen? Oder würde er wertvolle Zeit mit der Suche nach Michael Stoddard vergeuden?
Mitch wusste nach wie vor nicht, dass sein Bruder Noah McCall war. Einzig der Gouverneur und dessen engste Berater waren eingeweiht. Die Geschichte, die sie in Umlauf brachten, lautete, dass Michael anständig geworden wäre und der Polizei im Tausch gegen Strafverschonung half, seinen Zwillingsbruder zur Strecke zu bringen. Mitch würde sie nicht anzweifeln. Wenn es eines gab, was er verstand, dann, dass man andere reinritt, um die eigene Haut zu retten.
Michael finden zu wollen, ohne Samara zu benutzen, ergab keinen Sinn. Mitchs Rachewünsche galten ihnen beiden. Auf keinen Fall würde sein Bruder einfach verschwinden, ohne zumindest den Versuch zu unternehmen, sich an den zwei Leuten zu rächen, von denen er glaubte, sie hätten ihn auffliegen lassen.
Noah konnte zwar nicht Mitchs Gedanken lesen, aber er kannte ihn gut genug, um seine Pläne zu erahnen. Rache, dann Flucht. Mitch war zu böse, als dass er diese Geschichte schlicht abhakte. Und er war hinreichend arrogant, zu glauben, er könnte sich an ihnen rächen, ohne gefasst zu werden.
Noah musste bereit sein, wenn sein Bruder zuschlug. Im Geiste spielte er alle Möglichkeiten und Szenarien durch, während er sich wieder den Polizisten zuwandte. »Wie lauten Ihre weiteren Befehle?«
»Wir sollten hierbleiben, bis Sie kommen.«
Diese Männer hatten reichlich zu tun und konnten es sich nicht leisten, herumzusitzen und abzuwarten, weil Mitch eventuell aufkreuzte. »Sie können es gewiss gar nicht erwarten, endlich nach Hause zu dürfen.«
»Unsere Schicht endet in einer halben Stunde.«
Noah schritt auf die Vordertür zu. »Es wäre gut denkbar, dass Mitch gar nicht hierherkommt. Ich wollte mich lediglich davon überzeugen, dass Samara sicher ist. Sobald sie hier ist, sage ich beim Revier Bescheid.«
Mit diesen Worten verabschiedete er die zwei Polizisten, schloss die Tür hinter ihnen und atmete auf. Allein in Samaras Haus zu sein verlieh ihm ein Gefühl von Frieden. Obgleich er wusste, dass es zwecklos war – hatte er doch im Viertelstundentakt angerufen, seit er von Mitchs Ausbruch erfuhr –, holte er sein Handy hervor und versuchte es noch einmal. Wieder forderte ihn ihre Bandstimme auf, eine Nachricht zu hinterlassen.
Noah steckte sein Telefon ein und ging in die Küche. Das dumpfe Klopfen hinter seinen Augen drohte sich zu einem heftigen Hämmern zu steigern. Er brauchte dringend Koffein und etwas im Magen.
In Samaras Küche fand er Kaffee und Filtertüten auf Anhieb. Er nahm extra viel Pulver, weil er davon ausging, in den nächsten vierundzwanzig Stunden keinen Schlaf zu bekommen, schaltete die Maschine ein und wandte sich um.
»Hi, Brüderlein.« Noah sah noch das Grinsen in Mitchs Gesicht, ehe der Schmerz in seinem Schädel explodierte und alles um ihn herum schwarz wurde.
21
Mitch schob seine Hände unter die Achseln seines Bruders und zerrte ihn aus der Küche ins Wohnzimmer. Dort ließ er ihn in der Zimmermitte fallen und trat ihm fest in die Rippen. Keine Bewegung. Eindeutig ausgezählt. Eine beachtliche violette Beule bildete sich an Michaels Schläfe. Das Ganze sollte aber nicht zu schnell vorbei sein, deshalb fühlte Mitch lieber an Michaels Hals nach seinem Puls. Langsam und regelmäßig. Gut.
Mit einer Zufriedenheit, die einzig sein Daddy nachfühlen könnte, weil sie beide diesen Freak gehasst hatten, pfiff Mitch leise vor sich hin und band dabei ein Seil um Micha els Arme und Beine. Auf die Kunst, einem Tier alle vier Beine ordentlich zusammenzubinden, hatte sich Mitch nie verstanden, aber er war verflucht gut darin, Menschen zu fesseln. In seinem Job war das auch viel wichtiger.
Es war ein Geniestreich gewesen, dass er das
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