Wenn die Schatten dich finden: Thriller (German Edition)
und Freunden hier an den Wänden hingen und auf fast allen freien Oberflächen standen … zumindest dachte er, dass es sich um Verwandte und Freunde handelte. Sie hatte offenbar viele Freunde. Der krasse Gegensatz zwischen ihm und Samara könnte augenfälliger nicht sein.
Ihre Wohnung war angefüllt mit Erinnerungen an Menschen, die sie liebte. In Noahs Apartment fanden sich weder private Bilder noch Erinnerungsstücke. Bei ihm hing teure Kunst an den Wänden, und er besaß eine große Bibliothek mit seltenen Büchern und Hunderten von DVD s und CD s. Sollte er jedoch nie mehr dorthin zurückkehren, würde er nichts von alldem vermissen.
Samaras Wohnung fühlte sich wie ein richtiges Zuhause an. Weiche, farbenfrohe Chenille-Kissen zierten das Sofa und die Sessel. Das Mobiliar war bequem und hatte etwas leicht Verwohntes, als hätte Samara es irgendwo gebraucht gekauft.
Noahs Wohnung war von Celeste, seiner Innenarchitektin und Gelegenheitsgeliebten, gestaltet worden. Er hatte ihr dabei freie Hand gelassen, denn es war ja lediglich der Ort, an dem er schlief, und dabei war ihm die Umgebung eigentlich egal.
Als er jetzt sah, was Samara in der kurzen Zeit aus ihrer Wohnung gemacht hatte, konnte er nicht umhin, beeindruckt zu sein. Sozialarbeiter verdienten nicht viel. Ihre Eltern waren nicht wohlhabend, und auch sonst hatte sie keinen vermögenden oder privilegierten Hintergrund. Samara hatte sich alles erarbeitet, was sie besaß. Und das sagte in Noahs Augen viel über sie aus. Sie war stark, eigenständig und entschlossen. In jeder Hinsicht bewundernswert.
Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, dass es Zeit für das Abendessen war. Hatte er sich ursprünglich noch darauf gefreut, ging er nun wenig enthusiastisch ans Werk, briet das Hackfleisch an und bereitete die Sloppy Joes. Er hievte sich drei fleischgefüllte Brötchen auf den Teller, holte die Kartoffelchips aus dem Schrank und eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Dann hockte er allein am Küchentisch und schlang sein Essen in grimmiger Stille herunter.
Seine Mutter hatte ihm jeden Freitagabend einen Sloppy Joe gemacht. Sie hatte gewusst, dass diese Burger sein Lieblingsessen waren, und die Freitagabende waren die einzigen gewesen, an denen sie etwas für ihn tun konn te, ohne den Zorn seines Vaters zu provozieren.
Sein Vater, Farrell Stoddard, hatte feste Abläufe am Wochenende, die niemand zu stören wagte. Am Freitag, nachdem er einen langen Tag mit Angeln oder Jagen zugebracht hatte, zog er los, schlief mit so vielen Frauen, wie er in die Finger bekam, und betrank sich danach bis zur Besinnungslosigkeit. Am Samstag kam er am frühen Morgen nach Hause und verschlief den restlichen Tag. Samstagabends forderte er sein »gottgegebenes Recht« ein, wie er es nannte: Er vergewaltigte und verprügelte seine Frau über Stunden. Am frühen Sonntagmorgen dann stand er auf der Kanzel vor allen Sündern und predigte in den glühendsten Tönen, wobei er jeden verteufelte, von der Regierung über andere Rassen bis hin zu den Frauen im Allgemeinen. Sonntagabends, nach der Kirche, disziplinierte er seine Kinder »auf die Art, wie Gott es mich lehrte«, was für Farrell hieß, dass er sie durchprügelte, bis sie nicht mehr stehen konnten.
Noahs Mutter verließ ihre Familie, als er zehn war, und Noah war froh gewesen. Nicht weil er sie nicht liebte, sondern weil er wusste, dass sie endlich sicher war. Er hatte unzählige Male versucht, sie zu beschützen, aber jedes Mal war er ebenfalls zusammengeschlagen worden, und er fürchtete, die Prügel, die sie anschließend einsteckte, waren noch viel übler, weil er sich einmischte.
Eines Tages, ohne Vorwarnung, hatte sie ihn und seinen Bruder umarmt, ihr hübsches Gesicht tränenüberströmt, und geflüstert, sie würde sie holen kommen. Noah hatte in dem ausgedörrten Garten gestanden und ihr nachgesehen, als sie den geteerten Weg hinunterging, dünn, gebeugt und viel älter wirkend, als sie tatsächlich war. Er hatte gewusst, dass er sie nie wiedersehen würde. Eine solche Einsamkeit wie in jenem Moment hatte er nie zuvor und auch danach nie wieder empfunden. Natürlich kam sie nicht zurück. Und als er sie Jahre später fand, war es schon zu spät.
Als Farrell entdeckte, dass seine Frau ihn verlassen hat te, und sie nirgends finden konnte, kam er nach Hause und prügelte beide Söhne blutig. Danach blieb er drei Tage fort. Noah und sein Bruder Mitchell lagen in ihren getrennten Betten, abwechselnd weinend und
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