Wenn die Schatten dich finden: Thriller (German Edition)
fluchend. Mitchell tat, was er immer getan hatte: Er gab seiner Mutter die Schuld an allem und verteidigte den Vater.
Noah konnte sich kaum rühren. Sein Vater sorgte stets dafür, dass er die schlimmsten Prügel abbekam. Mitchell war sein Liebling. Er mochte beide Jungen übel verdreschen, aber Noah steckte verlässlich mehr ein als Mitchell. Zwar waren sie eineiige Zwillinge, doch abgesehen von ihrem Äußeren hatten die beiden nichts gemein, angefangen mit der Zuneigung ihres Vaters.
Mit dreizehn war Noah endlich groß genug, um sich gegen seinen Vater zu verteidigen. Eines Nachts, nach einer weiteren Sauftour, griff sein Vater ihn an, während er schlief. Noah wachte gerade rechtzeitig auf, um die fleischige Faust zu sehen, die nach seinem Gesicht hieb. Er sprang aus dem Bett und prügelte seinen Vater grün und blau.
Danach folgten zumeist verbale Misshandlungen, die Noah größtenteils ignorierte, denn die Meinung seines Vaters bedeutete ihm nichts. Manchmal aber, nur zum Spaß, bedachte er ihn mit einem ganz besonderen Blick, und schon hielt Farrell seinen Mund.
Mitchell blieb der Lieblingssohn. Er fuhr mit seinem Vater oft tagelang weg, zum Jagen, Angeln und Campen. Noah lernte, für sich selbst zu sorgen. Er hatte noch nie begriffen, weshalb es als Sport galt, unschuldige Tiere zu töten. Für viele Leute war es ein Abenteuer, doch Noah reizte es nicht im Geringsten.
Mitchell, der bevorzugte, brave Sohn, war es, der Geschenke, Sonderbehandlungen und Geld bekam, wenn am Monatsende noch welches da war. Noah nahm sich, was übrig blieb oder was er stehlen konnte.
Das erste Mal hatte er gestohlen, weil er Hunger hatte. Sein Vater holte ihn im Sheriffbüro ab. Noah hatte keine Angst vor ihm gehabt, weil er inzwischen stärker als sein Vater war. Er rechnete nicht damit, dass sein Bruder mitmachte.
Sie fesselten ihn ans Bett und droschen abwechselnd auf ihn ein. Eigentlich hätte es Noah nicht verwundern dürfen, dass Mitchell seinem Vater half. Den Bruder, den Noah einst gekannt, mit dem er sich den Mutterleib geteilt hatte, gab es nicht mehr. Dieser Mitchell war bösartig, womöglich noch schlimmer als sein Vater.
Schließlich ließen sie von ihm ab, und Noah hatte eine wichtige Lektion gelernt. Er konnte nur auf sich allein zählen. Danach war er vorsichtiger, wenn er stahl. Dennoch hatte er nun einen gewissen Ruf, war polizeibekannt. Ladenbesitzer wurden vor ihm gewarnt, die Leute begegneten ihm mit Misstrauen. Wenn irgendwas passierte und nicht gleich ein Verdächtiger gefunden wurde, wurde Noah vom Sheriff befragt. Früher hatte er einige wenige Freunde in der Schule gehabt, bald hatte er keinen einzigen mehr.
Was Noah nichts ausmachte. Für ihn war es in Ordnung, auf sich gestellt zu sein. Er brach weiter das Gesetz und lehnte sich gegen alle erdenklichen Autoritäten auf. Ihn kümmerte nicht, was ihm passierte. Er war wild, ungezähmt und höllisch wütend.
Unterdessen gelang es Farrell Stoddard, sein Ansehen zu wahren – trotz seiner Trinkexzesse und seiner Gewalt gegen Frauen. Mitchell trat in seine Fußstapfen und überspielte seine Bösartigkeit mit einem charmanten Lächeln. Damit täuschte er jeden außer Noah.
Noah versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, nicht in die Schusslinie zu geraten, denn aus unerfindlichen Grün den hasste Mitchell seinen Bruder. Nachdem ihre Mutter fort war, hatte Noah nichts mehr, und dennoch blieb Mitchell neidisch auf ihn.
Der Neid seines Bruders war beinahe amüsant gewesen. Was zur Hölle hatte Noah denn schon, das Mitchell wollen könnte? Noah mied ihn, so gut er konnte, und machte sein eigenes Ding.
Bis Rebecca kam. Rebecca Stanley war das schönste, erfrischendste und unschuldigste Mädchen gewesen, dem Noah jemals begegnet war. Sie kam mitten im Schuljahr nach Monarch in Mississippi. Noah und seine siebzehnjährigen Hormone verliebten sich sofort in sie.
Er hatte noch nie ein hübscheres, zarteres Wesen als Rebecca gesehen. Mit ihrem honigblonden Haar, den sanften braunen Augen und ihrer liebenswerten Persönlichkeit war Rebecca auf Anhieb beliebt gewesen. Sie hätte jeden Jungen an der Schule haben können, weshalb es fast ein Schock war, dass sie tatsächlich mit Noah zu flirten und ihn zu mögen schien.
Ehe er sich’s versah, tat Noah all die albernen, idiotischen Sachen, die Jungen tun, um die Aufmerksamkeit eines Mädchens zu bekommen. Er bot ihr an, ihre Bücher zu tragen, hielt in der Cafeteria den Platz neben sich frei, falls sie sich zu ihm
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