Wenn die Schatten dich finden: Thriller (German Edition)
weil er ihre Hilfe wollte, nicht ihre Freundschaft.
Noah zog sich einen Stuhl heran, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. Dann grinste er. Es fiel ihm schwer, Samara anzusehen und nicht zu lächeln. Zugege ben, sie hatte schon reizvoller ausgesehen als im Moment, verschnürt wie ein Thanksgiving-Truthahn, die außerge wöhnlichen Augen funkelnd vor Feindseligkeit. Ihr langes, fast blauschwarzes Haar schimmerte im hellen Küchenlicht. Klein, zierlich und hundert Prozent pure Weiblich keit, das war es, was er gedacht hatte, als er sie zum ersten Mal sah. Sie war wie eine kleine Porzellanpuppe. Bis sie den Mund aufmachte. Dieser Mund! Wie oft war er in dem letzten Jahr mit einem Steifen aufgewacht, weil er von ihrem Mund geträumt hatte.
Ein erstickter Laut holte ihn in die Gegenwart zurück. Er musste sich auf den eigentlichen Grund besinnen, weshalb er hier war. Samara zu fesseln war nicht geplant gewesen, auch wenn Noah für alle Fälle fast immer das nötige Material dabeihatte.
»Hör zu, Mara, ich weiß, dass du sauer bist … und immer noch wütend wegen der Sache im vergangenen Jahr, aber ich brauche deine Hilfe.«
Ihre unglaublichen Augen weiteten sich empört. Ja, das verstand Noah. Sie war nach wie vor sauer auf ihn, und statt sich vernünftig mit ihr zu unterhalten, hatte er sie überfallen, gefesselt und geknebelt. Dein Charme lässt dieser Tage zu wünschen übrig, McCall.
»Wenn ich dir den Knebel abnehme, versprichst du, nicht zu schreien?«
Dankbarkeit leuchtete in ihrem Blick auf, während sie heftig nickte. Und da war wieder das seltsame Ziehen an der Stelle, wo Noahs Herz sein sollte. Er ignorierte es, stand auf und nahm ihr die Geschirrtücher ab.
Samara keuchte ein bisschen, hielt jedoch ihr Versprechen und schrie nicht. Sie gab überhaupt keinen Mucks von sich. Und wenn Samara nichts sagte, bedeutete das mit Sicherheit, dass sie etwas im Schilde führte. Am besten erklärte Noah ihr, was er wollte.
»Ich weiß schon, ich habe das hier etwas ungeschickt angestellt. Im Grunde bin ich mir gar nicht sicher, wie man so etwas richtig angeht, aber das ist eine andere Geschichte. Fakt ist, ich brauche deine Hilfe.«
»Wieso nennst du mich dauernd Mara?«
»Hmm?«
»Du sagst immer Mara zu mir. Wieso?«
Er zuckte mit der Schulter. »Ist nur ein Spitzname.«
Sie sah ihn an, als wäre er eine neu entdeckte Ungezieferspezies. »Muss ich mir deine ganze Geschichte in Fesseln anhören?«
Darauf fiel er gewiss nicht herein. »Ja, musst du. Ich habe keine Zeit, dich noch mal zu fesseln. Wir müssen reden, das heißt, du musst zuhören. Okay?«
Sie kniff den Mund zu.
»Du kennst meinen Job, stimmt’s?«
Sie nickte.
» LCR wurde gebeten, ein vermisstes Mädchen zu suchen. Ihr Name ist Ashley Mason. Sie ist dreizehn Jahre alt und verschwand vor drei Wochen aus Lexington in Kentucky.«
Unweigerlich beugte Samara sich vor. Nicht nur Noahs Worte nahmen sie gefangen, sondern auch seine Augen. Alles andere an ihm schien kalt, beherrscht, dabei vielleicht sogar ein wenig amüsiert … bis auf seine Augen. Sie glühten vor Entschlossenheit. Ja, Noah McCall mochte ein verschlagener Mistkerl erster Güte sein, aber ihm war absolut nicht gleichgültig, was mit diesen Kindern geschah.
»Alle Spuren verliefen im Sande, deshalb hat ihre Mutter sich an uns gewandt.«
Samara fiel etwas ein. »Warte mal, davon habe ich in den Nachrichten gehört. Ihre Mutter kandidiert für irgendein politisches Amt. Hatten sie nicht gesagt, das Verschwinden der Tochter hinge mit der Kandidatur zusammen?«
Noah nickte. »Das ist eine Theorie, an die wir indes nicht glauben. Nach allem, was wir von ihren Freundinnen erfahren konnten, hatte Ashley im Internet einen Jungen kennengelernt. Sie haben ein paar Wochen lang gechattet und dann ein Treffen verabredet. Seitdem wurde sie nicht mehr gesehen.«
»Ein Internet-Sexualtäter?«
»Wahrscheinlich. Nein, nicht nur wahrscheinlich, sondern ganz sicher.« Noah stand auf und zog einen Umschlag aus seiner Gesäßtasche. Er entnahm ihm ein Foto und schob es über den Tisch. »Das ist Ashley. Sie verschwand am fünften Oktober.«
Samara sah das blonde, blauäugige Mädchen an. Ashley wirkte unschuldig, obwohl das Make-up und die Frisur sie mindestens drei Jahre älter erscheinen ließen.
Noah legte ein weiteres Foto auf den Tisch. »Courtney Nixon, dreizehn Jahre alt, Asheville, North Carolina. Sie verschwand zwei Tage vor Ashley.« Und ein drittes Bild. »Joy Harding,
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