Wenn Die Seele Verletzt Ist
stört den gesunden Ablauf und kann sogar bewirken, daß der Rechner abstürzt und arbeitsunfähig wird. Genau das passiert mit der Psyche früh traumatisierter Kinder. Da die Betroffenen vergessen haben, daß das Abwertungsprogramm ursprünglich nicht von ihnen stammt, daß es sich also um ein Fremdprogramm handelt, sind sie ihm hilflos ausgeliefert. Wie ein Trojanisches Pferd verbirgt dieses Fremdprogramm seinen destruktiven Inhalt und tut so, als ob es dazugehöre. In dem Augenblick, wo die Betroffenen versuchen, entgegen diesem Programm ihr negatives Selbstbild zu ändern, schlägt es unvermittelt zu, kann den Rechner zum Absturz bringen und den Menschen in eine schwere Krise stürzen.
Dazu ein Beispiel: Eine junge Frau kam zu mir, weil es ihr unmöglich war, eine wirkliche Liebesbeziehung einzugehen. Sie hatte zahlreiche Affären gehabt – Sexualität war kein Problem für sie –, doch immer wenn es ernst in dem Sinne wurde, daß sich die Affäre in eine Liebesbeziehung zu verwandeln drohte, empfand sie plötzlich so intensiven Abscheu vor dem Mann, daß sie die Beziehung sofort beendete. In der Therapie erkannte sie, daß dem Gefühl des Abscheus etwas vorausging, ein Virusprogramm, das ihr in dem Augenblick, wo wirkliche Nähe aufkam, einflüsterte: „Du bist doch der letzte Dreck! Kein Mann, der etwas auf sich hält, wird sich mit dir Schlampe jemals einlassen!“ Den Abscheu, den sie in diesem Augenblick vor sich selbst empfand, projizierte sie auf den Mann.
Es ist häufig gar nicht so leicht, ein solches Virusprogramm zu löschen. Es schützt nämlich die Betroffenen wirksam davor, enge Beziehungen einzugehen, denn obwohl sie sich so sehr danach sehnen, haben sie gleichzeitig einen Horror vor ihnen. Auch wenn sie sich entschieden haben, nur die gute Seite der Eltern wahrzunehmen, existieren auf ihrem Rechner dennoch die Spuren von Mißhandlung und Vernachlässigung. So ist das, was sie sich am meisten wünschen, gleichzeitig das, was sie am meisten fürchten, denn Nähe wird gleichzeitig zum Trigger. Es dauert seine Zeit, bis die Betroffenen die damals verantwortlichen Menschen als Personen mit guten und mit mißhandelnden, vernachlässigenden Anteilen wahrnehmen können. Erst wenn klar ist, daß das Kind damals nicht verantwortlich war, ja gar nicht verantwortlich sein konnte, weil es der Willkür der Erwachsenen ausgeliefert war besteht die Möglichkeit, das innere Bild von sich selbst gründlich zu revidieren.
Daß sich Opfer mit ihren Tätern verbünden, kennen wir aus Entführungen. Dauert die Geiselnahme längere Zeit, wird von allen Entführungsopfern gleichlautend beschrieben, wie sich der Kontakt zum Geiselnehmer fortlaufend verändert: Zuerst wird er als verabscheuungswürdiger Aggressor wahrgenommen; dann folgt die Einsicht, daß der Täter über Leben und Tod entscheidet und meist der einzige Mensch ist, zu dem überhaupt Kontakt besteht. Die Geisel, deren Schicksal von seinem Wohlergehen abzuhängen scheint, geht dann oft so weit, daß sie sexuelle Beziehungen zu ihrem Entführer aufnimmt, ihn vor der Polizei warnt und sich vermeintlich auf seine Seite schlägt.
Seit bei einer Geiselnahme in Stockholm die Entführten ihre Banken anwiesen, Lösegeld und Kautionen für ihre Entführer auszuzahlen, und einige Frauen sich sogar mit den Tätern verheiraten wollten, nennt man dieses Phänomen „Stockholmsyndrom“. Das erste prominente Beispiel für solch ein Stockholmsyndrom war die Verlegerstocher Patricia Hearst, die in den siebziger Jahren entführt wurde. Nach einigen Wochen Geiselhaft wurde sie in inniger Umarmung mit ihrem Entführer fotografiert. Da es damals leider noch keine Untersuchungen über das Stockholmsyndrom gab, wurde sie nach ihrer Befreiung wegen Vortäuschung einer Entführung zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.
Wenn ein Mensch die Täter idealisiert, sich mit ihnen verbündet und sich selbst allein für alles Schlimme, das ihm zustößt, verantwortlich fühlt, haben wir es immer mit einer frühen und schlimmen Traumatisierung zu tun. Diese Störung finden wir auch bei Menschen, die am Borderline-Syndrom leiden.
Das Inszenieren des Schrecklichen
Traumaopfern verschlägt es häufig buchstäblich die Sprache, wenn sie sich in einer Triggersituation befinden oder wenn sie weiterhin mit Tätern in Kontakt stehen, sich also immer noch in einer Situation befinden, in der sie traumatisiert werden. Wie wir aus der Neurophysiologie wissen werden
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