Wenn Die Seele Verletzt Ist
denen keine genügend starken Ausgleichsfaktoren zur Verfügung standen: die Symptome und Symptomkomplexe. Ich verwende die klinischen Begriffe des internationalen Diagnosemanuals ICD 10 und das nicht etwa deswegen, um Menschen in bestimmte „Schubläden“ einzuordnen. Wir wissen ja bereits aus der Traumamechanik, daß traumatische Erlebnisse ziemlich ähnliche Verhaltensmuster prägen. Dasselbe gilt auch für die Symptome. Traumatisierte Menschen entwickeln auf Grund dieser speziellen Prägung ähnliche Symptome. Wenn ich den dafür allgemein bekannten, übergeordneten Begriff verwende, tue ich nichts anderes, als wenn ich Äpfel, Birnen und Bananen als Obst bezeichne. Darüber hinaus weiß jeder Arzt und jeder Psychotherapeut anderer Ausrichtung genau, worüber ich spreche, was die Arbeit im Sinne des Klienten erleichtert. Der Bezug auf die klinischen Symptome dient also in erster Linie dem allgemeinen Verständnis.
Die klinischen Begriffe erfüllen mich jedoch nicht mit Ehrfurcht in dem Sinne, daß jemand, der eine solche Diagnose erhalten hat, „kränker“ oder „gestörter“ ist als jemand ohne Diagnose. Letztlich ist jedes Symptom eine Überlebensstrategie, ein Verhaltensmuster, geprägt durch meist lange zurückliegende Erlebnisse. Wenn es dem Betroffenen gelingt, seine Strategien aus dem damaligen Kontext heraus zu verstehen und der Gegenwart entsprechend nützlichere Verhaltensweisen auszuprobieren, dann ist es ihm gleich, ob sein Problem ursprünglich als Symptom, Krankheit, Störung oder „Macke“ bezeichnet wurde.
Folgende Symptome und Symptomkomplexe entstehen nur oder überwiegend durch eine Traumatisierung:
• Dissoziative Störungen
- Multiple Persönlichkeitsstörung, Dissoziative Amnesie
•Selbstbeschädigendes Verhalten
•Somatisierungsstörung
- chronische Schmerzstörung, Herzneurose, Hyperventilationssyndrom
•Angststörungen mit Panikattacken
•Borderline-Störung
•Depression
•Zwangserkrankungen
•Posttraumatische Belastungsstörung
Diese Symptome werden in der Mehrzahl der Fälle nicht einem Trauma zugeordnet. Besonders die Opfer der sogenannten small-t-traumas sind davon betroffen, daß sie von Ärzten und Therapeuten immer wieder hören, ihre Beschwerden seien vor allem persönliche Defizite. Sie erhalten häufig die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“, die im ICD 10 in Kapitel F6 beschrieben sind, und zwar:
paranoid – empfindlich, mißtrauisch, streitsüchtig;
schizoid – freudlos, kühl, einzelgängerisch, unsensibel;
dissozial – herzlos, verantwortungslos, beziehungslos, gewalttätig;
histrionisch – theatralisch, oberflächlich, dramasüchtig, verführerisch;
anankastisch – zwanghaft, pedantisch, rigide, eigensinnig;
ängstlich – besorgt, unsicher, vermeidend, empfindlich;
abhängig – unselbständig, ängstlich, hilflos;
emotional instabil – impulsiv, aggressiv, explosiv;
Soweit die „Hitliste“ persönlicher Defizite. Sie werden sicher mit mir übereinstimmen, daß die Diagnose, einer dieser Gruppen anzugehören, für den Betroffenen äußerst abwertend und in keiner Weise hilfreich ist. Wir helfenunseren Klienten in jedem Falle mehr, wenn wir ihnen den Zusammenhang zwischen ihrem Trauma und ihren Symptomen aufzeigen und ihnen Mut machen, daß das daraus entstandene Verhalten tatsächlich veränderbar ist.
Dissoziation
Der Begriff Dissoziation bedeutet, daß der Mensch den Teil, der etwas erlebt, von dem Teil abspaltet, der das Erlebte empfindet. Zu diesem „Überlebensmuster“ greifen vor allem Kinder. Die traumatische Erfahrung bzw. ihre Wiederholung – deren Realität die Erwachsenen häufig leugnen – ist für das Kind so überwältigend, daß es sein Ichbewußtsein vom Trauma abzieht. Es reagiert nach dem Motto: Das Kind, dem das Böse passiert, bin nicht ich. So kommt es zu einer vollkommenen Abspaltung der Erinnerung an das Trauma und der damit verbundenen Gefühle. Dieser seelische Prozeß wird Dissoziation genannt.
Häufig reicht die Abspaltung so weit, daß das schreckliche Ereignis vollkommen verdrängt wird. Shengold (1979, S. 538) schreibt: „Bei akuten Ereignissen kann man ohnmächtig werden oder alle Gefühle abschneiden, bei wiederholt einwirkenden Traumen wird auch dieser Mechanismus chronisch. Was geschieht, ist so furchtbar, daß es nicht gefühlt werden darf und nicht registriert werden kann – eine massive Isolation der Gefühle, verbunden mit Konfusion und Verleugnung,
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