Wenn Die Seele Verletzt Ist
viel schwerer, sich von solchen ererbten Traumata zu befreien, da sie ihr Trauma nicht an einem Erlebnis festmachen können. Für jüdische Nachkommen gibt es darüber hinaus im Gegensatz zu ihren Eltern keine Zeit vor der Shoah. Sie haben nicht die Möglichkeit, den Holocaust auszublenden.
Aus therapeutischer Arbeit mit jüdischen Klienten wissen wir, wie sehr siedas Schicksal ihrer Vorfahren überschattet. Die meisten fühlen den unausgesprochenen Anspruch, das Volkstrauma persönlich tragen zu müssen. Besonders die Kinder von Eltern, die als einzige aus Familien mit zahlreichen Mitgliedern überlebt haben, stehen unter Druck. Sie sind die einzige Hoffnung ihrer Familien, die Tradition und den Namen ihrer Sippe weiterzuführen. Doch die Vererbung von Trauma kennen nicht nur jüdische Nachkommen, sondern auch die Kinder der Sinti und Roma und darüber hinaus alle Kinder von Opfern, ganz gleich ob sie Opfer der Nazis oder der Siegermächte waren, die ja ebenfalls nicht gerade zimperlich mit der Zivilbevölkerung umgingen. Hier ist vor allem das Leid der Vertriebenen zu nennen, der Menschen, vor allem aber der Frauen und Kinder, die vor russischen Soldaten flüchten mußten.
Beschränkte sich die Erforschung des Traumas und seiner Folgen bis in die siebziger Jahre auf die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, wurden in den USA aufgrund des Vietnamkriegs neue Erkenntnisse gesammelt. Diese Forschung wurde jedoch nicht von der Armee oder dem Gesundheitsministerium initiiert, sondern von geschädigten Soldaten, die sich, weil ihre Symptome von den offiziellen Stellen nicht ernst genommen wurden, in Selbsthilfegruppen zusammenschlossen und Therapeuten engagierten. Die nach Vietnam geschickten Soldaten waren im Schnitt 19 Jahre alt und gesund. Nach ihrer Rückkehr litten sie an heftigen Symptomen, die denen der sexuell mißbrauchten Kinder oder vergewaltigten Frauen glichen. Sarah Haley, die selbst Tochter eines traumatisierten Soldaten und Opfer sexuellen Mißbrauchs war, gelang bei der Zuordnung dieser Symptome zu schrecklichen Erlebnissen ein entscheidender Durchbruch. Dank ihres Einsatzes wurde die Diagnose „Posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS)“ 1980 erstmals in die internationalen Diagnosehandbücher aufgenommen. Nach diesem Durchbruch konnte in übergreifenden Studien ermittelt werden, wie viele psychische Erkrankungen ihren Ursprung ganz klar im Trauma haben. Diese Erkenntnis hatte eine entscheidende therapeutische Wirkung: Hatten früher Patienten gegen ihre kranke Psyche gekämpft, war also der Feind das eigene Innerste, so wurde ihnen durch die Diagnose PTBS klar, daß sie ganz normale Menschen waren, denen etwas Schreckliches zugestoßen war.
Wir wollen an dieser Stelle wieder zu Freud und der Geburtsstunde des Ödipuskomplexes zurückkehren. Freud hatte aufgrund des gesellschaftlichen Tabus die Möglichkeit eines realen Mißbrauchs ausgeschlossen und die Erinnerungen seiner Patientinnen in den Bereich der Phantasie verlegt. Als Grundlage für seine Theorie benutzte er den „König Ödipus“, eine griechische Tragödie, die er allerdings auf seine Weise interpretierte. Um dem Leser eigene Schlüsse zu ermöglichen, hier ganz kurz die Inhaltsangabe des um 429 v. Chr. geschriebenen Meisterwerks von Sophokles:
Laios, dem König Thebens, wird prophezeit, daß ihm bestimmt sei, durch die Hand seines Sohnes Ödipus, dessen Geburt bevorsteht, zu sterben. Um diesem Schicksal zu entgehen, durchbohrt der Vater die Füße des drei Tage alten Säuglings, bindet sie zusammen und beschwert die Fessel mit einem Stein; ein Hirte soll das Kind im nächsten Fluß ersäufen. Doch der Hirte hat Mitleid mit dem Säugling, befreit ihn von seiner Fessel und übergibt ihn einem Boten des Königs Polybos von Korinth. Der kinderlos gebliebene Herrscher empfängt Ödipus als ein Geschenk der Götter und nimmt ihn an Sohnes statt an. Als der erwachsen gewordene Jüngling von einem Seher erfährt, daß ihm bestimmt sei, den Vater zu töten und die Mutter zu ehelichen, flieht er aus Konrinth, um seinerseits diesem Schicksal zu entgehen.
Auf seinem Weg in die Fremde wird er von einem Herold, dem Begleiter eines alten Mannes, gewaltsam vom Wege abgedrängt. Das läßt sich der Königssohn aus Korinth nicht bieten. Es entwickelt sich ein Handgemenge, in dessen Verlauf ihn der alte Mann mit dem Doppelstachel „mitten übers Haupt“ schlägt. Ödipus kämpft um sein Leben und tötet den Alten. Als er die Stadt Theben
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