Wenn Die Seele Verletzt Ist
belästigt hatte. Aufgeschreckt gab Freud die Order der therapeutischen Abstinenz. Von jetzt an mußten sich seriöse Analytiker jeder emotionalen menschlichen Regung gegenüber ihren Patienten enthalten, um die wilde sexuelle Lust nicht in ihnen zu wecken. Vor diesem Hintergrund können wir nachvollziehen, woher die Männerphantasien über das gefährlich liebestolle Weib stammen, dem der Mann zum Opfer fällt.
Sandor Ferenczi, der dafür bekannt war, daß er Patientinnen heilte, die andere Analytiker aufgegeben hatten, verabschiedete sich 1933 ganz offiziell vom Ödipuskomplex. Er glaubte seinen Patientinnen und stellte „deren tatsächliches Kindheitstrauma in den Mittelpunkt der psychoanalytischen Behandlung“. Ferenczi beklagte, daß seine Kollegen keinen Bezug zur Realitätihrer Klienten herstellten. „Das Sexualtrauma als krankmachendes Agens kann nicht hoch genug angeschlagen werden“, schrieb er 1933. Der Text, in dem dieser Satz vorkam, wurde von der Psychoanalytischen Gesellschaft verworfen. Freud verlangte von Ferenczi, auf die Veröffentlichung zu verzichten. Sie erschien erst 1961. Anna Freud meinte dazu:
„Wenn man die Verführungstheorie aufrecht erhält, dann bedeutet das die Preisgabe des Ödipuskomplexes und damit der gesamten Bedeutung der bewußten wie unbewußten Phantasien. Danach hätte es meines Erachtens keine Psychoanalyse mehr gegeben“ (Krutzenbichler in Egle, S. 118).
Der reale Mißbrauch an Kindern wurde von der Psychoanalytischen Gesellschaft jahrzehntelang geleugnet. Es gab keine wissenschaftlichen Auseinandersetzungen darüber, keine Dialoge, keine Veröffentlichungen. Sebastian Krutzenbichler nennt diese Zeit „ein dunkles Kapitel der eigenen Geschichte“ (Krutzenbichler in Egle, S. 115). Als in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre feministische Beratungsstellen und Kinderpsychiater anfingen, den Berichten der Kinder Glauben zu schenken, geriet die Psychoanalyse unter massive Kritik. Doch es dauerte tatsächlich noch einmal zehn Jahre, bis sich die Psychoanalytische Gesellschaft ganz offiziell dieses Themas annahm. Heute üben aufgeklärte Kreise der Psychoanalytischen Gesellschaft Selbstkritik. Der erste Analytiker, der 1976 offen die Verleugnung des Inzests kritisierte, war Joseph Peters; Shengold prägte 1979 den Begriff „Seelenmord“ für sexuellen Mißbrauch und machte ihn damit zur Tatsache. Der New Yorker Analytiker Klein beklagte 1981 die tragischen Auswirkungen der Einführung des Ödipuskomplexes und selbst Anna Freud stellte 1981 fest, daß Inzest schlimmer wirke als Vernachlässigung und Mißhandlung.
Auch der Mißbrauch von Therapeuten an Klientinnen geriet in die Diskussion. Zwischen 1996 und 1998 entstanden Studien, die 267 psychoanalytische Therapieverläufe untersuchten und dabei auf 20% schwere und 38% leichtere Fälle von sexuellem Mißbrauch der Analysandinnen durch ihre Analytiker stießen (Krutzenbichler in Egle, S. 124). Seit Mitte der neunziger Jahre scheint es möglich zu sein, offen über diese Problematik zu sprechen. Da Inzestopfer dazu neigen, ihre Erfahrungen zu wiederholen, sind sie besonders gefährdet, von ihren Therapeuten mißbraucht zu werden, da sie scheinbar willig auf solche Angebote eingehen. Auch mir persönlich sind einige solcher Fälle bekannt. Die Klientinnen stehen im gleichen Dilemma wie in ihren Familien, ist doch der Therapeut wie damals der Vater ein Mann, der nett, verständnisvoll und liebevoll zu ihnen sein sollte und es in vielen Fällen tatsächlich ist. Der sexuelle Übergriff wird als unvermeidliche Dreingabe akzeptiert, das Geheimnis mußte gewahrt bleiben und der Täter wird geschützt. Selbst bei wirklich krassen Fällen gelang es mir nicht, die Klientin zu einer Anzeige ihres Therapeuten zu motivieren.
Abschließend möchte ich betonen, daß es nicht nur Analytiker sind, die ihre Klientinnen sexuell mißbrauchen. Auch Vertreter anderer Therapierichtungen machen sich dieses Verbrechens schuldig. Es ging mir beim historischen Rückblick auch nicht darum, die Psychoanalyse „in den Dreck zu ziehen“. Sie leistete jedoch einen gewichtigen Beitrag zur allgemeinen Traumaamnesie, die wir noch heute beklagen und unter der unzählige Klientinnen leiden. Es gibt eine Vielzahl von neuen analytischen Untersuchungen und Veröffentlichungen und eine auf der Psychoanalyse basierende Traumatherapie für Inzestopfer. Viele verantwortlich arbeitende Kolleginnen und Kollegen unterstützen ihre Klienten und helfen ihnen
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