Wenn die Wahrheit nicht ruht
der Garderobe einen Schuh nach dem anderen umdrehte. Zu sprechen wagte sie nicht, also tippte Leonie Sören auf die Schulter und deutete auf die Schuhe, bevor sie fragend die Schultern hob. Sören reagierte prompt und zeigte auf die Haus tür. Es steckte kein Schlüssel.
Leonie griff nach der Türfalle, doch die Tür gab keinen Millimeter nach. Die Verzweiflung niederkämpfend zwang sich Leonie nachzudenken. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere an der Stirn schaute sie sich in dem kleinen Windfang um, als ihr auf einmal hinter den Mänteln etwas Glänzendes auffiel. Schnell schob sie die Jacken beiseite und tatsächlich – da hing ein hübsch bemaltes Schlüsselbrett.
Durch die Form der paar wenigen Schlüssel liess sich schnell eruieren, welcher zur Haustüre passte. Eilig schnappte sich Leonie den kleinen S ilbernen und steckte ihn ins Schloss. Innerlich jubelte sie, als der Zylinder sich in Bewegung setzte. Fluchtartig w aren Sören und Leonie draussen.
Sören war bereits die Treppe hinunter gerannt, da drehte Leonie noch einmal um, schlich zurück in den Windfang, hängte den Schlüssel zurück an seinen Platz und zog die Tür zu. Sören traute seinen Augen nicht, beschloss aber später nachzufragen.
Dann stahlen sie sich im Schutz der Nacht davo n, ohne zu wissen, dass man sie die ganze Zeit beobachtet hatte.
1986
Auch nachdem draussen die Dunkelheit über das Dorf hereingebrochen war und die Kirchenglocke die zehn t e Stunde schlug, war Jan noch nicht wieder zurück. Alina fragte sich, woran das liegen mochte. Womöglich war er im Wirtshaus und debattierte mit Hans, wie mit der ungehorsamen Tochter und der treulosen Ehefrau weiter zu verfahren war.
Oder aber es war ihm etwas zugestossen.
D ie grösste Sorge bereitete ihr die dritte Möglichkeit. Was, wenn er Ambros gefunden hat te ? Was würde Jan ihm antun? Diese Ungewissheit raubte ihr beinahe den Atem.
Sie lehnte sich an die Küchenzeile und liess verzweifelt den Kopf in die Hände sinken, als plötzlich etwas gegen die Fensterscheibe flog. Aus ihren Gedanken gerissen fuhr sie erschrocken herum. Doch in der Finsternis konnte sie nichts erkennen. Sie trat vorsichtig einige Schritte näher und schaute angestrengt in die Nacht. Da, schon wieder! Ein leises ‚Klack’ an der Scheibe.
Eine Mischung aus Angst und Neugier de liess ihr Herz schneller schlagen. Ihren inneren Kampf gewann schliesslich die Neugierde. Alina trat ans Fenster und öffnete es vorsichtig. Sie meinte, hinter dem Busch auf der anderen Seite ihres Gartens eine kleine Bewegung wahrgenommen zu haben, war sich aber nicht sicher. Erst , als ein leises ‚P ssst’ folgte, war ihr klar, dass sich dort drüben ein Mensch versteckt hielt. Alina schluckte einmal schwer, bevor sie den Mut aufbrachte, leise flüsternd die Worte an die Gestalt zu richten, die ihr am meisten auf der Zunge brannten.
„Wer ist da?“ Ihre Kehle war derart trocken, dass ihre Stimme der einer Krähe glich. Eine Weile lang blieb es still. Sie war sich nicht sicher, ob de r Unbekannte verstanden hatte. Doch n och bevor sie ihre Frage wiederholen konnte, erhielt sie eine Antwort.
„Bist du alleine?“
„Wie bitte?“ Erstaunt über die Gegenfrage, wäre ihr der leicht raue Einschlag der Stimme aus dem Dunkeln beinahe entgangen.
„Ist er schon zurück?“ Er klang ungeduldig und seltsam eindringlich. Als würde ihre Antwort über Leben und Tod entscheiden. Wie sehr sie das tatsächlich tat, konnte Alina noch nicht annährend erahnen.
Aber die Antwort wartete er gar nicht erst ab. Es raschelte und die Gestalt trat in den schwachen Schein, den das Licht aus der Küche auf den Rasen warf.
„ Mein Gott …“ Eine Welle der verschiedensten Gefühle drohte Alina zu überrollen. Gleichermassen erschrocken wie verwirrt und wütend schlug sie sich die Hand vor den Mund.
„Bist du alleine? Ich habe nicht lange Zeit, aber ich kann nicht gehen, ohne noch einmal mit dir gesprochen zu haben.“
Mit einiger Mühe fand Alina ihre Sprache wieder. „Jan könnte jeden Augenblick zurückkommen.“
„Bevor ich herkam, war er noch im Wirtshaus.“
„Ambros, ich, wie…“ Tausende Fragen schossen Alina durch den Kopf, die sie alle gleichzeitig stellen wollte. Aber wenn sie ernsthaft Antworten wollte, musste sie ihre Gedanken ordnen. „Wie bist du ihm entwischt?“
„Sagen wir, er ist noch dämlicher , als ich dachte. Es war leicht, ihn im Wald abzuhängen.“
„Warum warst du überhaupt noch in
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