Wenn die Wahrheit nicht ruht
Leonie langsam die Luft ein . Während sie sich darauf konzentrierte, wie sich ihre Lungen füllten, beruhigte sie sich etwas und der vernebelte Verstand klärte sich soweit, dass er wieder einigermassen brauchbar funktionierte.
Ihrer aufgewühlten Gefühle wieder mächtig, wandte sie den Blick von dem Portrait an der gegenü berliegenden Wand ab. Auch ohne zu wissen , wie er ausgesehen hatte , war sie sich sicher, soeben Bekanntschaft mit Herrn Hans Zumbrunn gemacht zu haben.
Noch einmal lauschte sie, ob das Geräusch aus dem Keller näher kam, hörte aber nichts mehr . Dennoch woll te sie nicht länger in der Nähe dieser Tür sein. Darüber, wie sie das Haus je wieder verlassen konnte, wollte sie erst nachdenken, wenn es soweit war.
Dicht an die Wand gedrückt tastete sie sich vorsichtig einige wenige Schritte durch den langen , dunklen Korridor vorwärts . Dann blieb sie erneut stehen und spähte in die von diffusem Licht leicht erhellten Räume .
Alles schien still und friedlich, nur ihr etwas zu schneller Atem war zu hören. Sobald sich ihre Augen einigermassen an das schwache Mondlicht gewöhnt hatten, konnte sie sich allmählich ein schemenhaf tes Bild ihrer Umgebung machen.
Leonie erkannte, dass die Tür, durch die sie den Keller verlassen hatte, unter einer Treppe lag, an deren Fuss sie nun stand . Was sich im oberen Geschoss befand, war aber nicht von Interesse. Viel interessanter schien der Raum rechts neben dem Treppenabsatz.
Bevor sie sich aber dem Ziel ihrer verbotenen Aktion näherte, wandte sie sich nach links um.
Wie gehofft, lag dort, nur durch einen schmalen Windfänger vom Wohnraum abgetrennt, der eigentliche Eingang. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss ihr durch den Kopf, wie einfach es wäre , ihre dumme Aktion einfach abzubrechen, durch die Tür zu marschieren und alles zu vergessen. Doch genauso einfach schien es, durch die andere Tür zu treten. Dorthin, wo sich vielleicht ein paar weitere Teile zu ihrem seltsamen Puzzle verbargen.
Würde sie es sich je verzeihen, wenn sie nun ging, jetzt, da sie doch schon so weit gekommen war? Zögerte sie, weil sie sich vor dem fürchtete, was sie finden könnte? Weil sie Angst hatte, der Wahrheit ein Stück näher zu rücken? Die Antworten zu erhalten, nach denen sie schon immer gesucht hatte, ohne es zu wissen? Eigentlich war es ganz einfach. Die Antwort lautete: Niemals. Sie würde sich niemals verzeihen einfach abgehauen zu sein, nur weil sie Schiss hatte.
Also fasste sie sich ein Herz. Mit dem Grundriss des kleine n Teils des Kellers im Kopf, de n sie kannte, wandte sie sich nach rechts und trat in den Raum, unter dem sie ihrer Meinung nach zu dem schicksalhaften Zeitpunkt gewesen war. Und tatsächlich – entweder waren die Bewohner des Hauses sehr unordentlich gewesen oder die Frau hatte den Tatort noch nicht aufgeräumt. Es konnte aber auch noch nicht allzulange her sein, dass die Sanitäter hier waren. Entsprechend könnte es also nur eine Frage der Zeit sein, bis die Schwägerin auftauchte. Aber wo war sie jetzt? Soweit Leonie gesehen hatte, lag das Haus im Dunkeln und war still. Eigentlich zu still. Hatte sie nicht mit Sören abgesprochen, er soll e die Frau ablenken? Wo war er?
Durch den Windfang hatte sie sehen können, dass die Haustüre geschlossen war und auch dort kein Licht gebrannt hatte, das auf einen Besuch hindeutete. Hatte Sören sie etwa ganz vom Haus weggelockt? Das wäre natürlich hervorragend, aber darauf verlassen wollte sich Leonie nicht. Also schob sie die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag.
Wollte sie nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich lenken, musste sie auf die Unterstützung stärkeren Lichts verzichten. Stattdessen trat sie ans Fenster und spähte hinaus. Zufrieden stellte sie fest, dass das Fenster auf den hinteren Teil des Grundstückes gerichtet war. Dorthin, wo sich nichts ausser Wald und Berge befand. Dorthin, wo sie selbst vor ein paar Stunde n hergekommen war. Bei diesem Gedanken schauderte sie leicht. Vor allem angesichts des Ge dankens an ihre jetzige Position und den Ausblick, der sich ihr bot. Hatte vielleicht vor nicht allzu lange Zeit auch jemand so dagestanden, al s sie durch den Garten schlich?
Als könnte sie diese unangenehme Vorstellung aus s perren, zog sie schnell die Vorhänge zu. Dann wandte sie sich wieder dem Raum zu. Sie zog ihr Schweizer Taschenmesse r erneut aus der Jacke und knipste die Taschenlampe an. Der Lichtpegel war nicht sehr stark,
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