Wenn die Wahrheit nicht ruht
, miteinander.
Suchend schaute sich Leonie um, bis sie am Rand des Menschenauflaufs wie erhofft ein bekanntes Gesicht entdeckte. Etwas erhöht stand Sebastian vor dem Gemeindesaal und blickte ruhig in die Menge. Sie schob sich durch die Leute, bis sie an ihrem Ziel ankam.
„Was ist hier los?“ Angepasst an die Lautstärke der anderen , waren Leonies Worte kaum mehr als ein Flüstern.
„ Die Untersuchungen der Toten aus dem Gletscher sind beendet.“
„Ach ja? W eiss man jetzt sicher , wer sie waren?“
„Einer der beiden war tatsächlich Moritz . Der andere war sein Knecht . Die Menschen hier hatten also recht .“
„Oh, wow. “ Von der seltsamen Stimmung angesteckt, trat Leonie noch etwas näher an Sebastian heran . „Und was ist mit den Stichwunden, die in der Zeitung erwähnt waren?“
Sebastian senkte seinen Kopf , bis sein Gesicht ganz nah an Leonies Ohr war. „Es soll tatsächlich die Todesursache sein.“ Sein Atem streifte ihr Haar und sie erschauerte.
„Denkt ihr an Selbstmord?“
Leonie spürte, wie Sebastian langsam bedächtig den Kopf schüttelte.
Um den Gruselfaktor abzuschütteln, musste Leonie mehrmals schlucken, doch ihr wurde die Stimme rau, als sie dem Worte verlieh, was allgegenwärtig in der Luft zu hängen schien. „ D as bedeutet, es war Mord . “
Als Sebastian sich nicht regte, sah sie zu ihm auf. Sein Blick sagte alles .
„Was meinst du, was passiert ist?“
„Wenn ich das wüsste. Die Menschen hier hätte n nur zu gerne, dass sich die Toten aus einem einfachen Stre it heraus gegenseitig erdolcht hätten. Für das Dorf und seine Vergangenheit wäre es das E infachste. Aber es scheint niemand wirklich daran zu glauben. Einige , vor allem ä ltere , geben sich der Theorie hin, dass damals zuviel Sünde geschehen ist . Dieser Umstand hat nach Meinung der Älteren den Geist der alten Sagen wieder erweckt, der sich sogleich daran gemacht hat , die Gottlosen dahinzuraffen. Er da“, Sebastian zeigte auf ein gedrungenes, dünnes Männlein mit schütterem Haar, schlechten Zähnen und schwieligen Händen, „ist der Ansicht, er hätte damals ein schleifendes Geräusch vor seinem Haus gehört. Aus Neugierde ging er ans Fenster und entdeckte draussen in der Kälte einen Mann in einem schwarzen Umhang, der etwas Schweres zog. Der alte Mann glaubte, das wäre einer der Bettler, die im Tod Speisen auf den Berg trug en .“
Ein Lächeln huschte über Sebastians Gesicht, als er Leonies verständnislosen Ausdruck sah. „ M an erzählt sich, dass viele Bettler mehr zusammenschnorrten, als sie eigentlich brauchten. Also wurden sie etwas zu wählerisch dafür, dass sie Bettler waren, was sich im Tod rächte. Z ur St rafe mussten s ie dann nach ihrem Ableben jedes weggeworfene und vergammelte Stückchen aufsammeln und den Berg hinauftragen. Aber immer , wenn sie kurz davor waren , an der Bergspitze anzukommen, rollt e der Ballast den Berg wieder hinunter, denn jedes Stückchen wog so schwer wie ein grosser Stein. Das ist übrigens auch die Erklärung für Steinschlag oder Wuhrgänge. Immer, wenn sich am Berg e in Fels löst, sagt man, die Bettler würden wieder Speisen rollen.“
„Das ist ja eine tolle Geschichte. Aber er glaubt das doch nicht im Ernst?“
„Doch, ich denke , genau das tut er. Der dort drüben ist der Ansicht, dass er in derselben Nacht auch etwas vor seinem Fenster gehört hat. Er wagte aber nicht hinzugehen und nachzusehen, da er fürchtete, es wäre eine Totenprozession.“
„Davon habe ich, glaube ich, schon gelesen. H örten die Menschen draussen Wimmern, Weinen oder sonstige ungewöhnliche Geräusche , glaubten sie, die Toten gingen vor dem Haus durch. Die meisten wagten nicht nachzusehen, wohl auch, weil sie nicht die nächsten sein wollten, die der Tod mit sich nahm.“
„So ist es. Deshalb hat sich auch der alte Georg unter dem Esstisch versteckt, bis das schleifende Geräusch abgeebbt war . “
Es gefiel ihr, dass Sebastian sich während den Erzählungen in einem ausgeprägten Walliser Dialekt zu verlieren schien. Dabei störte es Leonie keineswegs, dass sie manche Worte und Ausdrücke nicht auf Anhieb , sondern erst im Kontext , verstand. Gerne hätte sie ihm noch weiter zugehört, doch einer plötzlichen Eingebung folgend, legte sie eine Hand auf Sebastians Arm. „ Warte. G laubt man nun denjenigen, die nahrungsmittelrollende Bettler und Totenprozessionen gesehen haben wollen, dann haben sie , genaugenommen , wahrscheinlich den Mörder mit seinen
Weitere Kostenlose Bücher