Wenn die Wahrheit nicht ruht
Zumindest bis um die Ecke des nächsten Hauses. Dort sah sie sich nach einem geeigneten Weg um, um geschützt vor den Blicken der Bewohner zu Hans Zumbrunns Haus zurückzukehren. Der Umstand, dass das Haus mit dem Rücken zu unbesiedeltem Waldgebiet stand, kam ihr in mehrer er Hinsicht entgegen. Zum einen zeichnete sich in der Ferne ein Wanderweg ab , der sich zwischen den Bäumen verlor - und wer würde einem Menschen auf einem befestigten Waldweg schon besondere Aufmerksamkeit schenken? - Zum anderen musste sie nicht befürchten , ihr Vorhaben würde durch neugierige Blicke der Nachbarn gestört werden.
Also schlenderte sie in den Wald, als wäre sie ein normaler Spaziergänger. Im Wald angekommen folgte sie eine gewisse Zeit lang dem Pfad, bis sie sich sicher sein konnte, dass man sie ohne Fernglas nicht mehr ausmachen konnte. Dann wandte sie sich nach rechts und bog vom Weg ab und in das dichte Unterholz des Waldes ein. Querfeldein schlug sie sich durch das ausladende Geäst der kahlen Bäume, bis sie an den äussersten Rand des Grundstücks der Zumbrunns stiess. Vor ihr stand eine alte , verwitterte Hütte, deren Bretterwand genügend Blickschutz bot, um unbemerkt bis zu m Haupthaus gelangen zu können.
Noch einmal sah sie sich um, doch es war weit und breit keine Menschseele auszumachen. Dann sprang Leonie kurzerhand über den tiefen Holzzaun und näherte sich dem Haus. Nach wie vor schien sie niemand bemerkt zu haben, zumindest regte sich nichts. Vorsichtig wagte sie sich weiter vor. Ohne Zwischenfall sch affte sie es bis zu ihrem Ziel.
Geduckt tastete sie sich , mit dem Rücken zum Haus, unter den Fensterbrettern hindurch die Wand entlang, immer eine n Blick nach oben richtend , um sicherzugehen, dass nicht plötzlich jemand den Kopf aus einem der Fenster streckte . Doch diese Seite des Gebä udes barg nicht das Gewünschte.
Also tat sie, was sie eigentlich hatte vermeiden wollen. Sie schob sich um die Hausecke herum und weiter an der alten Steinmauer des Sockels entlang. Fest der Überzeugung, dass es zu riskant war, die Frontmauer auch noch abzusuchen, dachte sie bereits über ihren Rückzug nach, als si e sich plötzlich mit ihrer Befürchtung konfrontiert sah. Auf einmal durchbrach ein knirschendes Geräusch die idyllische Stille. Erschrocken zuckte Leonie zusammen .
Nicht sicher, woher das Knirschen rührte, sah sie sich nach eine m möglichen Versteck um. Dabei f iel ihr Blick auf den Erdboden direkt vor ihr , und da wusste sie, was das Geräusch verursachte. Da sie darauf bedacht war, sich an der Hausmauer zu orientieren, war ihr nicht aufgefallen, dass das schmale Rasenstück seitlich des Hauses durch einen Weg geteilt wurde. Und dieser Weg war mit feinem Kies bedeckt.
Als ihr dämmerte, dass die anfänglich leise scharrende Regelmässigkeit des Geräuschs kaum merklich, aber dafür schnell lauter wurde, stieg Panik in ihr auf. Mit unumstösslicher Sicherheit wusste sie auf einmal , was gerade geschah. Sie war nicht mehr alleine in dem Garten. Es kam jemand auf sie zu , und zwar schnell. Wenn sie sich also nicht schleunigst in Bewegung setzte, würde sie entdeckt werden . Nur wohin?
Alles spielte sich innert weniger Sekunden ab. Getrieben von ihrem Instinkt löste sich Leonie aus ihrer Deckung und setzte sich in Bewegung . D a erspähte sie , verdeckt von einem kleinen Stapel Brennholz , ein schräg stehendes Fenster im kalten Stein.
Ohne weiter nachzudenken stürzte Leonie darauf zu und hob es m it einigen wenigen Handgriffen soweit aus den Angeln , dass sie es ganz öffnen konnte. Dann liess sie sich in Windeseile durch die schmale Öffnung i n den Keller des Hauses gleiten , drehte sich um und verriegelte das Fenster exakt i n dem Augenblick, als sich von a ussen ein Schatten vor die Öffnung schob. D en Schrei, der ihrer Kehle entweichen wollte, mit aller Macht hinunterkämpfend presste sich Leonie an die Wand unter dem Fenster. Dunkle , schmale Schatten hielten das fahle Licht, das durch das Fenster drang , in Beweg ung.
Erst als das Tageslicht wieder reg ungslos in den Raum schimmerte und die leisen Schritte nicht mehr zu hören waren, wagte es Leonie, sich zu bewegen. Sie löste sich von der Wand, warf noch einmal einen scheuen Blick zurück zum Fenster und konzentrierte sich dann voll und ganz auf das, was vor ihr lag.
Es dauerte eine Weile, bis sich Leonies Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Schliesslich konnte sie aber die Umrisse von allerlei Kram erkennen. Ein alter
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