Wenn die Wahrheit nicht ruht
Opfern gesehen!“
Sebastian liess sich die Möglichkeit kurz durch den Kopf gehen und kam zum se lben Schluss. Allerdings hatte Leonie inzwischen s einen Ärmel losgelassen, nur um sich an den nächsten z u hängen. Nämlich den des Männchens, das den toten Bettler gesehen haben wollte .
„Entschuldigen Sie bitte, Sie kennen mich nic ht, aber ich habe gehört, dass S ie in der Nacht, in der das alles geschah, einen Mann in einem schwarzen Umhang mit einer schweren Last an ihrem Fenster vorbeigehen sahen. Konnten Sie erkennen , wer das war?“
Verwirrt starrte der Alte Leonie an. Es dauerte eine Weile, bis er den Mund aufbrachte. „Grüne Augen. Das sind grüne Augen und rotes Haar. Dass es dich noch gibt ! Ich dachte, man hätte dich verbrannt. Und jetzt stehst du hier und fragst nach dem Bettler aus jener Nacht. Willst du ihn dir holen?“
Leonie brauchte einen Augenblick um zu verstehen. Sebastian war da s chneller. „Nein, mein G uter, sie will niemanden holen.“ Unauffällig schob Sebastian Leonie hinter seinen Rücken, aus dem Blickfeld des Alten. „Aber kannst du mir sagen, ob du damals das Gesicht des Bettlers erkanntest ?“
„ Er musste büssen .“
„Ja, das musste er und muss e r immer noch. Wenn du mir nur sagen könntest, wie er ausgesehen hat, könnten wir ihn für seine Sünden auf ewig strafen.“
„Das hätte er verdient, dieser Ungläubige.“ Sebastian schien den richtigen Nerv getroffen zu haben. Die leeren Augen des Alten klärten sich und in seinem wässrigen Blick stand auf einmal so etwas wie Leidenschaft.
„Oh, wie wahr! Nur hat der Sündige seine Busse nicht mit erhobenem Kopf getan. Wie sich ’ s gehört, hielt er den Blick in Reue und Demut gegen Mutter Erde gerichtet.“
Nur mit Mühe konnte Sebastian seine Enttäuschung verbergen. „Das heisst , du hast ihn nicht erkannt.“
„Nein.“ Der Alte schien zu bemerken, dass aufgrund seine r Unwissenheit ein Sünder möglicherweise der gerechten Strafe entkam . Enttäuscht liess er den Kopf hängen.
Sebastian begriff, weshalb er dem Alten beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte . „Ist schon gut, wir werden ihn trotzdem finden. Bestimmt.“ Damit wandte sich Sebastian ab und wollte ga nz nebenbei Leonie mit sich mit ziehen. Er erwischte aber nicht ihre Hand, sondern den Ordner darin. Stutzend hielt er inne.
„Was ist das denn?“
Unschuldig blinzelte Leonie Sebastian an. „Ein Ordner. Aber sag mir lieber, was das vorhin eben sollte. Was hat der Mann damit gemeint, als er sagte, er dachte, man hätte mich verbrannt?“
„ Ach nichts, er hat dich einfach nur richtig eingeschätzt.“
Den freien Arm in die Seite gestützt , stand Leonie mit hochgezogener Augenbraue vor Sebastian. „Hilf mir bitte, ich kapier ’ s nicht.“
„ Er hat dich für eine Hexe gehalten. Grüne Augen, rotes Haar. “ Sebastian war machtlos ge gen das schelmische Grinsen, da s sich auf seinem ganz en Gesicht ausbreitete. Dann wurde er wieder ernst. „ Nenn es klischeebehafteter Aberglaube, aber für ihn hat all das nie an Wahrheit verloren. Du musst aber nicht meinen, damit ablenken zu können. Wo genau hast du gesagt, bist du gewesen ?“
Leonie räusperte sich. „Bei Hans Zumbrunn.“
„Okay. Und was genau hast du dort gemacht? Hast du etwa etwas herausgefunden?“
„Nicht direkt. Also , ich bin mir noch nicht sicher.“
„Ist der Ordner von ihm?“
„Wie kommst du darauf?“
„Er war der Gemeindepräsident und unten auf der Ordneranschrift prangt das Wappen der Gemeinde.“
Wie ein Kind, das beim Äpfelstehlen erwischt wurde, errötete Leonie . Das war Antwort genug. „Er hat dir den Ordner nicht freiwillig gegeben, nicht wahr?“ Doch Sebastian wartete die Antwort gar nicht erst ab. „Was hast du mit Hans gemacht?“
In diesem Augenblick schrie irgendwo am anderen Ende des Platzes eine Frau entsetzt auf. Dann wurde es einen kurzen Augenblick ganz still, bevor eine neue Woge der A ufregung die Menschen aufschreckte . Wie ein Buschfeuer trieb die Nachricht in Richtung Kirche, wo sie Leonie und Sebastian erreicht e . Doch keiner der beiden traute seinen Ohren. Reflexartig schaute Leonie mit vor Schreck geweiteten Augen zu Sebastian hoch. Mit flehendem Blick schüttelte sie den Kopf. Sebastian hingegen war irritiert. Für einen kurzen Moment hatte sein Gehirn die Geräusche um ihn herum vollständig ausgeblendet. Er fühlte sich wie in einem schalldichten Raum. Aber noch bevor er das Gehörte begriffen hatte,
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