Wenn Die Wahrheit Stirbt
fürchtete fast, sich übergeben zu müssen. »Oh, das tut mir echt leid«, brachte sie stammelnd hervor. Sie fischte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und war froh, dass ihre Haare kurz ihr Gesicht verdeckten, als sie sich über den Tisch beugte, um die braune Flüssigkeit aufzuwischen. »Ich - Irgendwie ist mir plötzlich so komisch.«
»Ist aber hoffentlich nicht ansteckend, oder?« Gail beäugte sie argwöhnisch.
»Nein, nein, ganz bestimmt nicht. Es ist nur die Hitze. Also, vielen Dank für den Kaffee. Ich hoffe, dass die ganze Sache gut für Sie ausgeht. Und für die kleine Charlotte.« Sie warf Gail ein schiefes Lächeln zu und umkurvte die Umzugskartons, um zur Tür zu gelangen.
»Sie«, rief Gail ihr nach. »Wie war noch mal Ihr Name, sagen Sie? Gemma?«
Mit pochendem Herzen drehte sie sich um. »Ja, richtig. Gemma.« Sie hatte es vermasselt, und nun würde sie sich da irgendwie wieder herausmogeln müssen, möglichst ohne die Undercover-Operation des Drogendezernats auffliegen zu lassen.
»Sie haben gesagt, Sie hätten geholfen, Charlotte zu versorgen, bevor diese Sozialarbeiterin sie mitgenommen hat.« Zu Gemmas Überraschung hatte Gails Stimme einen bittenden Ton angenommen. »Dann kennen Sie doch diese Silverman. Ob Sie vielleicht ein gutes Wort für mich einlegen könnten?«
Mit klappernden Sohlen rannte Gemma die Treppe hinunter, wobei sie um ein Haar über das Dreirad gestolpert wäre, und stürzte zur Tür hinaus auf den grünen Rasen. Sie keuchte, als hätte sie gerade einen Sprint absolviert, und erst als sie ihren Wagen erreicht hatte und sich die Haare aus dem Gesicht strich, während sie nach ihren Schlüsseln kramte, sah sie die beiden.
Zwei junge Männer, der eine deutlich kräftiger als der andere, beide mit kurz geschorenen, dunklen Haaren. Sie standen am unteren Treppenabsatz und beobachteten sie. Obwohl sie älter waren als auf den Fotos, erkannte Gemma sie von den Familienporträts in Gail Gilles’ Wohnung. Kevin und Terry Gilles, ohne jeden Zweifel. War sie direkt an ihnen vorbeigegangen? Wussten sie, dass sie aus der Wohnung ihrer Mutter gekommen war? Wenn nicht, dann würden sie es schon bald wissen.
Sie versuchte ihren Gesichtsausdruck neutral zu halten und wandte sich just in dem Moment ab, als ihre suchenden Finger auf den Schlüsselbund stießen. Betont beiläufig steckte sie den Schlüssel ins Türschloss, öffnete die Tür und stieg in ihren Escort. Der glühend heiße Fahrersitz brannte ihr auf den Oberschenkeln, selbst durch den Stoff der Hose hindurch, und das Lenkrad fühlte sich an, als wäre es geschmolzen. Doch sie stellte das Gebläse auf die höchste Stufe und fuhr langsam und vorsichtig davon, ohne die Fenster herunterzulassen oder sich umzudrehen.
Sie überquerte die Bethnal Green Road, bog bei der ersten Gelegenheit rechts ab und hielt neben einem ruhigen Friedhof an. Gails Wohnblock schien meilenweit entfernt. Ohne den Motor abzustellen, nahm sie die zitternden Hände vom Lenkrad und drehte die Fenster herunter.
Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, einfach so in die Wohnung hineinzuspazieren, vollkommen unvorbereitet und ohne Verstärkung? Was hätte sie getan, wenn die Söhne plötzlich zur Tür hereingekommen wären?
Und was hatte sie mit ihrer riskanten Aktion erreicht?
Sie dachte die Sache durch. Sie wusste jetzt immerhin, dass Gail Gilles, die selbst kein Einkommen zu beziehen schien, von ihren Söhnen mehr als reichlich mit teuren Konsumgütern versorgt wurde und womöglich noch mit anderen Dingen, die nicht so ins Auge fielen; und das, obwohl sie beide allenfalls
Hilfsarbeiterjobs hatten. Damit schien es ziemlich sicher, dass Kevin und Terry über undokumentierte - und wahrscheinlich illegale - Einkommensquellen verfügten.
Und sie hatten sie gesehen. Sie hatte sich nicht identifiziert, hatte ihren Nachnamen nicht genannt, aber würden die beiden - oder eventuell ihre Bosse - dennoch Verdacht schöpfen?
Und was, wenn Gail nicht auf ihre gespielte Unbeholfenheit hereingefallen war? Was, wenn Gail Gemma ihrerseits etwas vorgespielt hatte, weil sie sie als Undercover-Polizistin entlarvt hatte? Und eine miserable Undercover-Polizistin überdies.
Verdammt. Und das Schlimmste war, dass sie unter keinen Umständen Janice Silverman von den Dingen, die sie in Erfahrung gebracht hatte, in Kenntnis setzen durfte. Gail Gilles war eitel, raffgierig, herzlos und verlogen, und sie schien immer noch einen heftigen Groll gegen ihre vermisste
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