Wenn Die Wahrheit Stirbt
ohne Mühe, und es war noch schlimmer, als sie gedacht hatte. Ein fünfstöckiger, grauer Klotz, ein Überbleibsel der Betonblock-Architektur der späten Sechzigerjahre, erhob sich wie ein Fremdkörper auf einer grünen Rasenfläche. Jeder irgendwie erreichbare Quadratzentimeter Beton war mit hässlichen Riesenfratzen und Symbolen beschmiert. An den Balkonen der oberen Stockwerke hingen fadenscheinige Wäschestücke wie welke Blätter in der Sonne, und aus einem offenen Fenster tönte indische Popmusik.
Gemma fand einen Parkplatz, stieg aus und schirmte ihre Augen mit der Hand ab, um zu dem Gebäude aufzublicken. Wenn Sandra hier aufgewachsen war, wie hatte sie das alles überstanden, ohne dass ihr Drang, schöne Dinge zu schaffen, darunter gelitten hatte? Oder war der Wunsch, Schönes hervorzubringen, aus der Verzweiflung erwachsen? Leyton war alles andere als schön gewesen, aber das hier … Sie dachte an das Haus in der Fournier Street mit seiner behaglichen Atmosphäre und seiner exzentrischen Eleganz, und sie glaubte Sandras Bedürfnis, ein einladendes Zuhause zu schaffen, nun noch besser zu verstehen. Sandra musste den Wunsch verspürt haben, ihrer Tochter zu geben, was ihr selbst versagt geblieben war.
Gemma verzichtete freiwillig darauf, den Aufzug zu benutzen. Selbst wenn er funktionierte, was ziemlich unwahrscheinlich war, hatte sie keine Lust, in der stickigen und zweifellos übelriechenden Kabine eingeschlossen zu sein.
Das uringetränkte Treppenhaus war schlimm genug. Sie stieg zum fünften Stock hinauf und achtete strikt darauf, nur durch den Mund zu atmen und weder Wände noch Geländer anzufassen. Auf halbem Weg nach oben sah sie ein kaputtes Dreirad auf dem Treppenabsatz liegen. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, dass ein kleines Kind damit gestürzt sein könnte.
Als sie im obersten Stock ankam, verschwitzt und mit einem
etwas flauen Gefühl im Magen, sah sie an den Wohnungsnummern, dass Gail Gilles’ Tür irgendwo am Ende des langen Flurs sein musste. Der Betonboden war mit Plastiktüten, leeren Limoflaschen, Bierdosen und Zigarettenkippen übersät, und an einer Wand lag, verschrumpelt und eingetrocknet, ein gebrauchtes Kondom.
Während sie sich der Tür mit der abblätternden blauen Farbe am Ende des Gangs näherte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was sie sagen würde. Die Behauptung, dass sie über einen gemeinsamen Freund mit Naz verbunden sei, würde auf Sandras Mutter wohl kaum Eindruck machen, aber sie würde ihr Bestes versuchen müssen. Eine Klingel war nirgends zu sehen, also klopfte sie an. Nach einer Weile verstummten die penetranten Geräusche einer Fernsehwerbung, die aus der Wohnung gedrungen waren, und Gemma war sich sicher, dass sie in diesem Moment durch den Türspion gemustert wurde. Sie unterdrückte den Impuls, noch einmal zu klopfen, und unternahm eine bewusste Anstrengung, ihre Haltung zu entspannen und eine freundliche Miene aufzusetzen. Sie konnte sich vorstellen, dass ihre hellgrüne Leinenjacke inzwischen genauso mitgenommen aussah wie die Wäsche, die sie auf den Balkonen hatte hängen sehen; andererseits vermutete sie, dass sie mit frisch gestärkter Garderobe hier ebenso wenig hätte punkten können wie mit ihrer Verbindung zu Naz Malik. Immerhin sah sie wohl nicht wie eine Gerichtsvollzieherin aus.
Die Tür wurde aufgerissen, und Gemma starrte die Frau an, die Sandras Mutter sein musste. Sie sah eine kurvenreiche Figur, die allerdings stark auseinandergegangen war, und Haare, die vielleicht einmal die gleiche glänzende Weizenfarbe gehabt hatten wie die von Sandra, jetzt aber platinblond gefärbt und zu einer Hochfrisur toupiert waren. Gail Gilles trug Sandalen, und ihre goldfarben lackierten Zehennägel waren die perfekte
Ergänzung zu der engen schwarzen Caprihose, dem ebenfalls eng anliegenden Leoparden-Top, dem überreichlichen Make-up und der Pose, mit der die Frau sie empfing.
Die Hand in die Hüfte gestemmt, begrüßte sie Gemma mit den Worten: »Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt - sie sind weg. Gibt gar keinen Grund, dass Sie noch mal herkommen, wie die verdammten Bullen.«
»Ms. Gilles?« Gemma hoffte, dass ihr verdutzter Gesichtsausdruck ausreichte, um den Schreck zu kaschieren, der sie bei dem Wort Bullen durchzuckt hatte. Sie brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, dass sie sich gar nicht verraten hatte - Gail Gilles hielt sie offenbar für eine Sozialarbeiterin, die sich vergewissern wollte, dass
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