Wenn Die Wahrheit Stirbt
alten London, eng und überfüllt, jeder Stein ein Zeugnis bewegter Geschichte, während im Hintergrund schon die hohen Türme der modernen City unaufhaltsam heranrückten, wie Armeen aus riesenhaften Glassplittern. »Ich frage mich, woher der Name ›Widegate‹ kommt - breit ist sie ja nun gerade nicht«, dachte sie laut nach.
Melody, die im Vorübergehen die Fassaden studierte, antwortete gedankenverloren: »Die meisten von diesen Häusern wurden im achtzehnten Jahrhundert von Seidenhändlern erbaut. Vielleicht gab es hier ein Tor, das nach Spitalfields hinausführte - wo damals wohl wirklich noch Felder waren. Schauen Sie, das muss der Club sein. Es ist ein neues Gebäude, aber sehr geschickt gemacht.«
Das Haus entsprach der Beschreibung, die Kincaid Gemma gegeben hatte. Sie klingelte, und gleich darauf öffnete sich die Tür mit einem Klicken.
Die junge Frau, die sie in dem eleganten Empfangsbereich begrüßte, war jedoch nicht die, von der Kincaid ihr erzählt hatte. Diese hier war eine zierliche Blondine mit nordischen Zügen, die Gemma an Pippa Nightingale erinnerten. Doch was Gemmas Blick gefangen hielt, war die große Textilcollage über dem Empfangstresen. Zweifellos Sandras Werk und ebenso beeindruckend wie die Arbeiten, die sie in Sandras Atelier gesehen hatte.
Sie hatten eben erst nach Lucas Ritchie gefragt, als auch schon ein großer, blonder Mann aus dem kleinen Büro hinter dem Empfangstresen trat. Er kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu, doch seine Miene war ein wenig misstrauisch. »Ich bin Lucas Ritchie. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin Detective Inspector Gemma James, und das ist DC Talbot. Aber ich bin nicht in offizieller Funktion hier, Mr. Ritchie.« Während Gemma ihm die Hand schüttelte, wiederholte sie die gleiche Erklärung, die sie schon Roy Blakely und Pippa Nightingale gegeben hatte, und nutzte die Gelegenheit, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Gut aussehend, ja, aber - sie konnte nicht genau sagen, was es war, das sie an ihm störte. Vielleicht war er ein bisschen zu perfekt gestylt, wobei sich unter dem feinen Stoff seines maßgeschneiderten Sakkos durchaus kräftige Muskeln abzuzeichnen schienen. Oder vielleicht war es der Hauch von Rot in seinem hellblonden Haar oder die Sommersprossen auf seiner gebräunten Haut - irgendetwas, was ihr persönlich gegen den Strich ging. »Pippa Nightingale sagte, Sie und Sandra Gilles hätten sich schon ewig gekannt«, fuhr sie fort, während sie sich bemühte, diesen eleganten, weltgewandten Mann mit dem, was sie von Sandra wusste, in Einklang zu bringen. »Ich dachte, wenn Sie vielleicht ihre Familie kennen …«
Ritchie ging vom Empfangstresen auf die Sitzecke zu, während das blonde Mädchen im Büro verschwand. Eine bleiche
Flamme, die keine Hitze abgab, loderte im Kamin, trotz des warmen Tages. Sie sollte wohl eine behagliche Atmosphäre erzeugen, doch Ritchie bot ihnen keinen Platz an.
»Ich habe Ihrem Superintendent - Kincaid, so hieß er doch?«, sagte Ritchie, und Gemma nickte zögernd, als hätte sie keinen blassen Schimmer, wen er meinte. Auf keinen Fall wollte sie zu erkennen geben, wie gut sie ihn kannte. »Ich habe Superintendent Kincaid gestern gesagt, dass ich Sandras Familie wirklich nicht gekannt habe.« Ritchie lehnte sich gegen die Rückseite eines Sessels und verschränkte die Arme. »Sie müssen verstehen - als wir uns kennenlernten, waren wir blutjunge Kunststudenten. Das waren nicht die Themen, über die wir uns unterhielten. Wir wollten die Welt verändern, und dabei konnten wir keinerlei Ballast gebrauchen.« Seine karamellfarbenen Augen schienen in weite Ferne zu blicken. Nach einer Weile fügte er sinnend hinzu: »Aber ich denke, man könnte schon sagen, dass Sandra den Ausschlag zum Besseren gegeben hat. Und sie war authentischer als die meisten von uns; schließlich kam sie aus einer waschechten Arbeiterfamilie, obwohl sie das nie an die große Glocke gehängt hat.«
»Hat sie sich für ihre Herkunft geschämt?«, fragte Melody. Mit ihrem geschmackvollen dunklen Nadelstreifenkostüm sah sie aus, als gehörte sie zum Clubpersonal.
»Sandra?« Ritchie lachte. »Sie haben Sandra nicht gekannt. Sie war stolz darauf, ein East-End-Girl zu sein - ein echtes East-End-Girl, würden einige heute sagen -, obwohl Sandra nie der Typ war, der irgendjemanden ausgeschlossen hätte. Sie hat ungewöhnlich empfindlich auf ethnische oder religiöse Vorurteile reagiert, selbst für die Verhältnisse unserer
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