Wenn Die Wahrheit Stirbt
würde.
Sorgsam faltete sie das Kleid und die Strickjacke zusammen und griff anschließend nach einer Jacke im gleichen Korallen-Pink, einem pink-weiß gestreiften T-Shirt und einer weißen Latzhose mit Aufschlägen. Und dann wählte sie noch ein gelbes Oberteil mit Lochstickerei mit einem rosa-gelb geblümten Röckchen und ein Paar rosa-weiße Ballerinas. Hatte Sandra auch so viel Freude daran gehabt, diese Sachen auszusuchen, so wie Gemma es in ihrer Fantasie getan hatte?
Sie legte noch einige weitere Kleidungsstücke dazu, dazu ein paar Stofftiere als Gesellschaft für Bob, den Elefanten, und das zerlesenste unter den Bilderbüchern, die auf dem Tischchen neben dem Bett lagen. Das Foto von Sandra stand noch neben dem Bücherstapel. Gemma zögerte, doch schließlich ließ sie es stehen. Noch nicht, dachte sie. Es war noch zu früh für eine so lebendige Erinnerung.
Für Louise notierte sie alles, was sie eingepackt hatte, auf einem Zettel und stellte die Tasche auf dem Treppenabsatz ab, ehe sie ins Atelier hinaufging.
Der Becher mit den Buntstiften stand auf dem Arbeitstisch, genau so, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Als sie sich nach einer Schachtel oder Tüte für die Stifte umsah, oder auch nur einem Gummi, um sie zusammenzubinden, war sie aufs Neue überwältigt von der Schönheit der Collage, die Sandra unvollendet zurückgelassen hatte.
Die Käfigmädchen , so hatte sie das Werk für sich genannt. Die verschleierten, nicht fertig ausgeführten Gesichter der Mädchen und Frauen ließen sie nicht mehr los, und sie fragte sich, was für eine Geschichte es war, die Sandra zu dieser Arbeit inspiriert hatte - und für wen sie gedacht gewesen war.
Immer noch auf der Suche nach einem Gummi ging sie zum Schreibtisch und kramte in den Schubladen. Die flache enthielt
das typische Sammelsurium, das sich wie von Magneten angezogen in jedem Schreibtisch anhäuft - kaputte Bleistifte, leere Kugelschreiber, Büroklammern und Kupfermünzen. Da lagen auch ein halbes Dutzend Gummis, aber sie waren alle zu klein für das Stiftebündel. Als Gemma die Schublade ganz aufzog, entdeckte sie ganz hinten ein zusammengeknülltes Stück Papier. Sie fischte es heraus, strich es glatt und sah, dass es eine Quittung über die Summe von einem Pfund war, ausgestellt auf Sandra Gilles, als Bezahlung für ein nicht näher beschriebenes Werk. Sie trug einen Stempel mit dem Namen und der Adresse der sexualmedizinischen Beratungsstelle in der Rivington Street.
Gemma erinnerte sich, eine solche Beratungsstelle in der Rivington Street gesehen zu haben, als sie auf dem Weg zu Pippa Nightingales Galerie gewesen war - war es vielleicht dieselbe?
Einem Impuls folgend, zog sie ihr Notizbuch aus der Tasche und suchte die Seite, auf der sie Pippa Nightingales Telefonnummer notiert hatte. Beim Blick in die Tasche stieß sie auf eines ihrer Haargummis, und sie dachte sich, dass es genau das Richtige für die Stifte wäre.
Nachdem sie die Stifte zusammengebunden hatte, nahm sie ihr Handy heraus und wählte die Nummer der Nightingale-Galerie. Es war schon spät, und Gemma hatte keine große Hoffnung, noch jemanden zu erreichen, doch nachdem es einige Male geläutet hatte, meldete sich Pippa.
Gemma nannte ihren Namen und fragte sie dann nach der Beratungsstelle in der Rivington Street.
»Das war eins von Sandras Wohlfahrtsprojekten«, sagte Pippa mit einiger Schärfe. »Ich habe ihr gesagt, sie könne ihre Arbeiten doch nicht einfach so herschenken, aber sie wollte nicht auf mich hören.«
»Sie hat ein Pfund dafür bekommen. Ich habe die Quittung in ihrem Schreibtisch gefunden. Was ist das für eine Beratungsstelle?«
»Klingt ganz nach Sandras Ablagemethoden. Na, das Finanzamt wird sich freuen.« Sie schnaubte verächtlich und fuhr dann fort: »Das ist eine sexualmedizinische Beratungsstelle, die sich hauptsächlich an die Frauen der hiesigen Bangladeschi-Gemeinde wendet.«
Gemma hatte unterdessen die Collage auf dem Arbeitstisch betrachtet. Sie beschrieb Pippa Nightingale die unvollendete Arbeit und fragte sie: »Glauben Sie, dass sie dabei an die Frauen gedacht hat, die diese Beratungsstelle aufsuchen? Oder dass die Collage für die Beratungsstelle gedacht war?«
»Möglich ist es«, meinte Pippa nachdenklich. »Aber es hört sich so an, als ob die Arbeit auch sehr stark auf das Hugenotten-Thema abhebt, auf das Sandra immer wieder zurückgekommen ist. Das Leben und die Geschichte der aus Frankreich eingewanderten Weber haben sie
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