Wenn Die Wahrheit Stirbt
ein gutes - oder sicheres - Umfeld finden würde«, fügte sie hinzu - eine Untertreibung, die, wie sie fand, kaum die Spitze des Eisbergs berührte.
»Naz wäre mit Ihnen einer Meinung gewesen.« Louise leerte ihr Glas und stellte es sehr bedächtig auf dem Tisch ab. »Und ich habe ihn enttäuscht.«
Ahmed Azad verzog keine Miene. »Wieso sollte ich Ihnen irgendetwas über diesen Mr. Ritchie erzählen können?«
»Weil Sie Mitglied in seinem Club sind«, antwortete Kincaid.
»Ah.« Azad zog das Wort in die Länge, und sein angedeutetes Lächeln war ohne Humor. »Wie ich sehe, ist irgendjemand indiskret gewesen. Aber es macht nichts. Es ist kein großes Geheimnis, wenngleich einige meiner - sagen wir, strenggläubigeren Brüder das wohl etwas kritischer sehen dürften.«
»Hat Sandra Gilles Sie mit Ritchie bekanntgemacht?«
»Ja, so war es in der Tat. Ich glaube, die beiden waren alte Freunde, und Sandra meinte, unsere Verbindung könnte sich positiv auf meine Geschäftsinteressen auswirken.«
»Und hat sie das?«, fragte Kincaid und trank noch einen Schluck von seinem Chai.
Azad blickte zur Tür und vollführte eine Geste, die das ganze Restaurant einschloss. »Es ist immer gut, Beziehungen zu haben. Ich könnte dieses Restaurant nicht halten, wenn meine
Gäste ausschließlich Bangladeschis wären, und so mancher meiner … Kontakte … hat schon gelegentlich eine Finanzspritze beigesteuert. Mit gutem Ertrag, wie ich betonen muss.«
»Und dennoch haben Sie, wie ich höre, so Ihre Probleme mit der weißen Bevölkerung gehabt, Mr. Azad. Vandalismus, wenn ich mich nicht irre?«
»Nennen Sie es ›Vandalismus‹, wenn einem Steine und Brandbomben durchs Fenster geworfen werden, Mr. Kincaid? Nehmen Sie diese Vorfälle etwa ebenso wenig ernst, wie Ihre Kollegen es getan haben?« Obwohl Azads Stimme ruhig blieb, spürte Kincaid den Zorn, der unter der Oberfläche brodelte.
Er fragte sich, was es diesen Mann kostete, seine Gefühle unter Verschluss zu halten, wenn er in dem Club in der Widegate Street mit den weißen Geschäftsmännern aus der City verkehrte - Männern, die nie am eigenen Leib Vorurteile erfahren hatten, die nie die brutale Gewalt eines Molotowcocktails erlebt, nie aus Angst vor einem Mob gezittert hatten.
»Es tut mir leid, dass die Polizei Ihnen nicht mehr geholfen hat«, sagte er, und er meinte es auch so. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wer die Täter sein könnten?«
Azad sah ihm lange in die Augen, dann stand er auf und trat vor eines der Fotos von saftigen grünen Landschaften, die die Wände seines Büros schmückten. Er betrachtete es und sagte: »Das ist immer unser Traum gewesen, Mr. Kincaid. Hier unser Glück zu machen und dann als reiche, angesehene Dorfälteste nach Sylhet heimzukehren, beneidet von allen Nachbarn und Verwandten. Aber für die meisten von uns geht dieser Traum nicht in Erfüllung. Unser Leben spielt sich hier ab. Das Leben unserer Kinder spielt sich hier ab. Wir wollen keine Schwierigkeiten mit denjenigen, die unsere Freunde und Geschäftspartner geworden sind.« Er verstummte.
»Sie haben es also gewusst«, sagte Kincaid leise. »Und Sie haben es der Polizei nicht gesagt. Wer war es, Mr. Azad?«
Azad drehte sich nicht um. »Ich habe ihre Gesichter gesehen. Sie hatten ihre Kapuzen auf, wie es zu solchen primitiven Schlägern passt. Aber ich habe sie dennoch erkannt. Sandras Brüder.«
Louise Phillips stand abrupt auf, griff nach ihrem Glas und schwenkte es, sodass die Eiswürfel darin klirrten. »Ich hole mir Nachschub. Wollen Sie auch noch einen?«
Gemma schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Für mich nicht«, sagte sie, stand aber ebenfalls auf und folgte ihr in die Wohnung. Während Louise in der Küche noch ein paar Eiswürfel aus dem Behälter brach und in ihr Glas warf, fragte Gemma: »Was haben Sie getan? Womit haben Sie Naz enttäuscht?«
Louise füllte das Glas zur Hälfte mit Gin und goss Tonic Water darauf. »Nachdem Sandra verschwunden war, hat Naz sein Testament geschrieben. Er fragte mich, ob er mich als Charlottes Vormund einsetzen könne.« Sie drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an die Arbeitsfläche, sah Gemma aber nicht an. »Ich habe nein gesagt.«
Gemma starrte sie ungläubig an. »Warum?«
»Weil … weil ich nicht glaubte, dass Naz irgendetwas zustoßen würde. Weil ich dachte, dass Sandra wieder auftauchen würde. Und als sie dann verschwunden blieb, dachte ich - Ich begann mich zu fragen - Ich weiß doch, dass
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