Wenn Die Wahrheit Stirbt
hinter solchen Fällen meistens … familiäre Streitigkeiten stecken.« Jetzt sah sie Gemma an, und ihr Blick war eindringlich. »Es ist mein Job. Und Ihrer auch. Wir sehen, wozu Menschen fähig sind.«
»Sie meinen, nach dem Motto ›meistens ist es der Ehepartner‹? Sie glaubten, dass Naz hinter Sandras Verschwinden steckte?«
»Gott steh mir bei.« Louise griff nach ihrem Glas und schlang ihre sichtlich unsicheren Hände darum. »Ich habe ihn verdächtigt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er es getan haben sollte. Aber er war so verändert danach, so unnahbar - dass ich dachte … Und ich war so wütend auf ihn, weil er mich nicht
an sich heranließ.Wenn er überhaupt geredet hat, dann nur mit diesem Freund, diesem Dr. Cavendish, dabei waren Naz und ich doch seit Jahren befreundet. Ich war eifersüchtig. Es war schäbig von mir und dumm. Und jetzt … Jetzt kann ich es nicht wiedergutmachen.«
»Meinen Sie? Ms. Phillips, könnten Sie nicht jetzt etwas bewirken, als Testamentsvollstreckerin? Gäbe es nicht irgendeine Möglichkeit für Sie, die gesetzliche Verantwortung für Charlotte zu übernehmen?«
Louise schüttelte den Kopf. »Nein. Das Testament wurde beglaubigt. Es ist rechtsgültig.« Sie zögerte einen Moment und sagte dann: »Es tut mir leid, dass ich nicht getan habe, was Naz wollte, wirklich. Aber selbst wenn es juristisch möglich wäre, könnte ich nicht dieVerantwortung für Charlotte übernehmen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich - Ich bin nicht der Typ dafür. Ich kann nicht - Ich mag Charlotte, aber sie ist nie wirklich … mit mir warm geworden. Das hier« - sie blickte zum Balkon hinüber - »diese Wohnung, und Tam und Michael, das ist wahrscheinlich die einzige Familie, die ich je haben werde. Ich bin einfach nicht dazu geeignet, für ein Kind zu sorgen.«
»Und Sie denken, dass Gail Gilles besser geeignet wäre?«
Obwohl es sie große Anstrengung kostete, sich zu beherrschen, war Gemma mit Louise zurück auf den Balkon gegangen und noch eine Weile bei ihr sitzen geblieben. Sie hatte versucht, sich Charlotte mit Louise vorzustellen, und zu ihrer Bestürzung festgestellt, dass sie es nicht konnte.
Irgendetwas stimmte nicht mit Louise, und es war mehr als nur ihre offensichtliche Trauer. Sie wirkte auf irgendeine undefinierbare Weise angeschlagen, ja versehrt, und die Art, wie Michael und sein Lebensgefährte Tam sich um sie kümmerten, hatte etwas auffallend Fürsorgliches.
Am Ende hatte sie Louise Phillips das Versprechen abgerungen, dass sie - sollte Gail das Sorgerecht für Charlotte bekommen - alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um Gails Zugriff auf Naz Maliks Erbe zu beschränken.
Doch dann, als sie im schwindenden Licht die kurze Strecke zur Fournier Street zurückfuhr, fragte Gemma sich, ob das wirklich so klug gewesen war. Würden sie, indem sie Gail das Geld vorenthielten, ihr nicht noch mehr Veranlassung geben, Charlotte zu misshandeln?
Sie parkte schräg gegenüber von Sandras und Naz’ Haus, und wieder einmal fiel ihr der Kontrast zwischen der strengen Silhouette der Kirche am einen Ende der Straße und den bunten Neonreklamen der Brick Lane am anderen Ende auf. Wie schwer war es Sandra und Naz gefallen, die Balance zwischen den beiden Welten - und den beiden Kulturen - zu wahren?
Nachdem sie das Haus betreten hatte, schaltete sie als Erstes die Lichter ein und öffnete die Terrassentür, um ein wenig frische Luft hereinzulassen. Schon nach diesen wenigen Tagen hatte sich ein muffiger Geruch im Haus festgesetzt, und zu dem schwarzen Fingerabdruckpulver, das die Möbel bedeckte, war ganz gewöhnlicher Staub hinzugekommen.
Sie ging durch die Räume, seltsam hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Empfindungen. Einerseits kam sie sich vor wie ein Eindringling, dann wiederum war da ein schmerzliches Gefühl der Vertrautheit. Im Wohnzimmer hob sie ein herumliegendes Bilderbuch und ein Stofftier auf und räumte beides ins Regal, genau wie sie es in ihrem eigenen Haus getan hätte.
Dann stieg sie die Treppe hinauf und betrat Charlottes Zimmer. Im Schrank fand sie eine Reisetasche mit Blümchenmuster und begann, sie mit Sachen aus den Schubladen zu füllen. Sie hielt ein pink gemustertes Sommerkleidchen mit einer dazu passenden weißen Strickjacke hoch, und sie erinnerte sich, wie sie während ihrer Schwangerschaft die Mädchenkleider in den
Schaufenstern angeschaut und dabei von der Tochter geträumt hatte, der sie einmal all die Sachen anziehen
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