Wenn Die Wahrheit Stirbt
fasziniert, und sie spürte eine persönliche Verbindung zu ihnen - sie wollte diese persönliche Verbindung. Gilles ist ein hugenottischer Name, und da Sandra ihren Vater nie kennengelernt hat, war es ihr wohl wichtig, etwas Sinnstiftendes in der Familiengeschichte ihrer Mutter zu finden. Nicht, dass ihre Mutter davon gewusst hätte oder dass es sie interessiert hätte.« Pippa seufzte. »Vielleicht sollten Sie einmal einen Blick in ihre Tagebücher werfen.«
»Tagebücher?«
»Sandra hatte Unmengen davon. Schwarze Skizzenbücher voll mit Notizen und Zeichnungen. Darin hat sie ihre Ideen ausgearbeitet. Sie könnten eine beträchtliche Summe wert sein, falls Sandra -« Pippa war einen Moment still und fuhr dann fort: »Hören Sie, ich muss jetzt Schluss machen. Aber wenn Sie diese Tagebücher finden, sollten Sie es auf jeden Fall schriftlich festhalten, für den Nachlassverwalter. Und wer auch immer das ist, er oder sie soll bitte mit mir Kontakt aufnehmen.«
Während Gemma ihr Handy ausschaltete und sich im Atelier umblickte, dachte sie sich, dass Pippa Nightingale vielleicht
wirklich um Naz und Sandra trauerte, aber jedenfalls nicht gewillt war, sich davon das Geschäft verderben zu lassen.
Sie trat vom Schreibtisch und der Arbeitsbank weg. Hatte sie nicht irgendwo schwarze Notizbücher gesehen, als sie zuletzt hier gewesen war? Ja, da lagen sie, auf dem Regal mit den Boxen, in denen Sandra Knöpfe, Bänder und andere Gegenstände aufbewahrt hatte, die sie für ihre Collagen brauchte - mindestens ein Dutzend identische schwarze Bände.
Sie nahm das oberste vom Stapel, schlug es auf und blätterte es vorsichtig durch. Notizen in vielen verschiedenen Farben, die winzige Schrift in die Seitenränder gezwängt oder kreuz und quer über sämtliche Flächen geschrieben, die nicht mit Zeichnungen bedeckt waren. Und die Zeichnungen … Gemma schaute genauer hin und war fasziniert. Zum Teil waren es Entwürfe; manche sahen aus wie Stoffmuster, bei anderen schien es sich um architektonische Details zu handeln - Gemma glaubte den reich verzierten, geschwungenen Türsturz eines Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu erkennen und die architektonischen Details eines Hauses in der Brick Lane. Und sogar winzige Kopien von Streetart-Malereien waren darunter, die Gemma an Fassaden in der Brick Lane gesehen hatte. Und Porträts - asiatische Frauen, junge und alte. Ein zerlumpter Mann mit grauen Haaren unter der gestreiften Markise eines Marktstands. Und eine Zeichnung, die mit wenigen hingeworfenen Strichen das entzückende Gesicht eines kleinen asiatischen Mädchens andeutete.
Gemma klappte das Buch zu und hielt es in der Hand, während sie nachdachte. Das war Sandra Gilles, hier auf diesen Seiten - oder zumindest alles, was Gemma oder Sandras Tochter vielleicht je von ihr wissen würden. Pippa Nightingale hatte angedeutet, dass die Notizbücher wertvoll sein könnten, begehrte Sammlerobjekte, aber was war mit dem Wert, den sie für Charlotte besaßen? Das war doch wohl wichtiger.
Gemma legte das Skizzenbuch weg und kramte in ihrer Tasche, bis sie den kleinen Spiralblock mit ihrer Liste für Louise gefunden hatte. Lange starrte sie die Seite an, dann legte sie den Notizblock in die Tasche zurück.
Sorgfältig nahm sie alle schwarzen Skizzenbücher aus dem Regal, legte das Bündel Stifte aus ihrer Tasche obenauf und verließ das Atelier.
Auf dem Weg nach unten nahm sie Charlottes geblümte Reisetasche mit, nachdem sie ihre gesammelte Beute darin verstaut hatte.
Im Erdgeschoss angekommen, schaltete sie alle Lichter aus und verriegelte die Terrassentür, ehe sie zur Haustür hinausging und auch diese von außen abschloss.
Sie blickte nach links und rechts, wie es ihre Gewohnheit war, doch die Straße war menschenleer. Rasch lief sie zu ihrem Wagen, öffnete die hintere Tür und bückte sich, um die Tasche auf dem Rücksitz abzustellen.
In diesem Augenblick wurde sie so brutal von hinten gestoßen, dass sie mit dem Kopf gegen das Dach des Escort knallte.
Sie taumelte, schüttelte den Kopf, ließ instinktiv die Tasche fallen und fuhr herum, die Faust um ihre Schlüssel geballt.
Sie waren zu zweit, und sie bauten sich bedrohlich vor ihr auf, so dicht, dass ihr der Geruch nach Schweiß und Bier entgegenschlug.
Sie mussten um die Ecke in der Wilkes Street auf sie gelauert haben, sonst hätten sie nicht so schnell hinter ihr auftauchen können. Der eine der beiden Männer war größer und kräftiger, mit schweren
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