Wenn Die Wahrheit Stirbt
sagte: »Wage es bloß nicht, mich so zu nennen!« Doch dabei lächelte sie und zog ihn dichter an sich heran.
»Wie willst du mich denn daran hindern?«
»Oh, da fällt mir schon was ein«, meinte Gemma. Sie spürte die Wärme seiner Hand auf ihrem Bauch und kuschelte sich an ihn. Doch dann entspannte seine Hand sich, und sein Atem verfiel in einen langsamen, regelmäßigen Rhythmus.
Gemma lächelte - und schlief ein.
Als draußen der Morgen graute, läutete sein Handy. Das Geräusch klang erschreckend laut in dem stillen Zimmer. »O Gott, schalt das Ding aus«, murmelte Gemma benommen.
Doch als sie seine Stimme hörte, war sie gleich hellwach. Sie setzte sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
»Was ist passiert?«, fragte sie, als er aufgelegt hatte. »Haben sie den Durchsuchungsbeschluss?«
Kincaid war schon halb aus dem Bett. Er lehnte sich zurück und gab ihr einen flüchtigen Kuss. »In Hoxton wartet schon ein Team auf uns.«
Gemma hatte sich das Gesicht gewaschen, war in Jeans und eine leichte Strickjacke geschlüpft und hatte dann nach den Kindern gesehen.
Betty hatte darauf bestanden, über Nacht zu bleiben, und es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Sie hatte Charlotte zu Toby gelegt, und als Gemma nun nach den zwei Kleinen schaute,
hatte Toby wie üblich seine Decke weggestrampelt, während Charlotte sich wie ein kleiner Igel in ihre eingewickelt hatte, sodass nur ihr Lockenschopf hervorschaute.
Gemma stand da und sah die beiden an, und sie wünschte sich von ganzem Herzen, sie könnte Charlotte vor weiterem Leid bewahren - und vor der Wahrheit über das Schicksal ihrer Eltern, sollten sie sie je erfahren. Dann seufzte sie und zog die Tür zu.
Die georgianischen Häuser in Hoxton schienen aus einer etwas späteren Periode zu stammen als die in der Fournier Street in Spitalfields. Die Haustüren waren hier nicht von reich verzierten Stürzen überwölbt, und den Häusern fehlten jene exzentrischen Details, die der Fournier Street ihren besonderen Charme verliehen.
Hier war die ganze Häuserflucht identisch gestaltet, von Fenstern und Türen über die Details der Fassaden bis hin zu den Klingelzügen. Miles Alexanders Haus war dennoch nicht zu verfehlen - sie erkannten es sofort an dem Transporter der Spurensicherung und den Polizeifahrzeugen, die davor parkten, und an der offenen Haustür.
Doug Cullen wartete auf dem Gehsteig auf sie und mit ihm - zu Gemmas Überraschung - Melody. Wie Gemma trug sie Jeans und eine Strickjacke, denn die Morgenluft war noch recht kühl. Sie sah erschöpft aus, doch sie hatte schon Kaffee in Pappbechern für alle besorgt. »Um die Ecke ist ein Coffeeshop«, erklärte sie. »Das hab ich jetzt dringend gebraucht.«
»Was tun Sie hier?«, fragte Gemma sie. »Ich wollte doch gar nicht, dass Sie heute Morgen schon wieder antanzen müssen, nachdem Sie gestern so lange gearbeitet haben.«
»Doug hat mich angerufen. Und ich wollte dabei sein.«
Gemma registrierte mit Interesse, dass das Verhältnis zwischen Melody und Doug sich offenbar entspannt hatte und dass
er Melody sogar ausdrücklich eingeladen hatte, an der Operation teilzunehmen.
»Schon was gefunden?«, fragte Kincaid.
»Sie hatten recht, Chef«, antwortete Cullen. »Ich hab noch schnell einen Blick in seinen Computer geworfen, bevor die Techniker ihn mitgenommen haben. Das Schwein hat sich nicht mal die Mühe gemacht, seine Dateien zu verschlüsseln - er hat sich wohl gedacht, er könnte sie noch schnell löschen, falls jemand bei ihm herumschnüffeln sollte.«
»Und Fotos gibt es auch«, ergänzte Melody, ohne eine Spur ihrer gewohnt munteren Art. »Ganze Alben voller Fotos.« Sie zog die Schultern hoch. »Truman ist auch auf welchen zu sehen. Und noch ein paar andere Typen. Wir werden die Gesichter der Mädchen unkenntlich machen müssen, um sie Alia und der Dame von nebenan zeigen zu können.«
»Wie viele Mädchen?«, fragte Gemma.
Melody zuckte mit den Achseln und trank einen Schluck von ihrem Kaffee. »Fünf oder sechs vielleicht. Das letzte Mädchen sah sehr jung aus. Sehr hübsch. Die Männer waren -« Sie schüttelte den Kopf.
»Irgendwelche Anzeichen dafür, dass bis vor kurzem noch Mädchen im Haus waren?«, fragte Kincaid.
Doug löste Melody ab, aber ohne die Empfindlichkeit in Bezug auf Zuständigkeiten, die er sonst an den Tag legte. »Im Moment nicht, aber die Kollegen sind noch nicht ganz durch. Auf einigen der Fotos kann man die Inneneinrichtung des Hauses erkennen,
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