Wenn Die Wahrheit Stirbt
sie allzu schmerzhaft gelehrt hatten. »Laut Tim waren Naz und Sandra strikt gegen jeglichen Kontakt zwischen Charlotte und Sandras Familie«, fuhr sie fort. »Und wir wissen gar nichts über diese Schwester.«
»Wir?« Melody sah sie fragend an.
»Die Polizei. Das Jugendamt. Sie wissen schon, was ich meine«, fügte sie ein wenig genervt hinzu.
Melody musterte sie noch ein wenig länger, als ob sie mit sich ränge, und sagte dann: »Also, für mich hört sich das so an, als ob Sie Charlotte Malik nicht mehr aus den Augen lassen wollen.«
11
Die bangladeschische Bevölkerungsgruppe in Großbritannien hat daher in den vergangenen sechzig Jahren mehrfach die Bezeichnung gewechselt: Inder, Pakistani, Bengalen, Bangladeschis. Heute sind die beiden letztgenannten austauschbar. Darüber hinaus verwenden viele den Begriff »Sylheti« als Selbstbezeichnung, da dies die Region ist, aus der die meisten britisch-bangladeschischen Familien stammen.
Geoff Dench, Kate Gavron, Michael Young: The New East End
Kincaid mochte es nicht, wenn er nicht gleich zu Beginn einer Ermittlung sein eigenes Team vor Ort hatte, aber da die Kollegen von Bethnal Green nun einmal die Ersten gewesen waren, schien es sinnvoll, die Einsatzzentrale in der dortigen Dienststelle einzurichten. Und er wollte Weller dabeihaben, ob es Weller passte oder nicht, was bedeutete, dass der DI, wenn er von seinem Gerichtstermin zurückkäme, mit einem neuen Leitenden Ermittlungsbeamten in seinem Revier würde leben müssen.
Kincaid hatte die Zentrale in einem Besprechungsraum mit einem Computerterminal und einer Weißwandtafel eingerichtet und eine Beamtin damit betraut, die eingehenden Anrufe aus der Bevölkerung anzunehmen, während ein anderer die Zeugenaussagen aus dem Park abgleichen sollte. Anschließend ließ er sich von der ausgesprochen attraktiven DS Singh sämtliche verfügbaren Informationen über Naz Malik und Sandra Gilles bringen.
Die Malik-Akten drückte er Cullen in die Hand, während er selbst sich die Unterlagen zur Vermisstensache Sandra Gilles vornahm und mit großem Interesse las. Natürlich kam es vor, dass Menschen ganz einfach verschwanden - man musste nur einmal einen Blick in die Vermisstenakten werfen. Aber in den meisten Fällen musste man nur gründlich genug nachforschen, um irgendwann auf einen Auslöser zu stoßen - einen Streit, Depressionen oder finanzielle Probleme. Oder es meldete sich ein Zeuge mit einem Hinweis, der die Theorie eines Gewaltverbrechens untermauerte. Doch Sandra Gilles - erfolgreiche Künstlerin, glücklich verheiratet und Mutter einer Tochter, die sie über alles liebte - schien an diesem sonnigen Sonntagnachmittag im Mai schlicht vom Erdboden verschluckt worden zu sein. Da musste doch mehr dahinterstecken.
Er las die E-Mail durch, in der Gemma ihm die Ereignisse des Wochenendes detailliert beschrieben hatte. Dann verglich er Gemmas Aufzeichnungen mit dem knappen Bericht, den DI Weller zu den Akten gelegt hatte. Tim Cavendishs Bemerkungen über Sandra Gilles’ angebliche Affäre mit einem Mann namens Lucas Ritchie wurden in Wellers Ausführungen mit keinem Wort erwähnt. Warum nicht?
Tim hatte Ritchie als den Inhaber eines Clubs bezeichnet, aber entweder hatte er den Namen des Clubs nicht erwähnt, oder Gemma hatte ihn nicht mitbekommen. Kincaid rief Tim Cavendish auf dem Handy an und registrierte die Überraschung in Tims Stimme, als er sagte, dass er ein paar Fragen zu dem Fall habe. »Ja, ich mische jetzt bei den Ermittlungen mit«, sagte er, sparte sich jedoch nähere Erläuterungen. »Tim, was diesen Lucas Ritchie betrifft - hat Naz dir sonst noch irgendetwas gesagt? Den Namen des Clubs zum Beispiel?«
»Nein.Vielleicht hätte ich das gar nicht erst erwähnen -«
»Unsinn«, unterbrach ihn Kincaid. »Du hättest es Gemma schon am Samstag sagen sollen. Ich ruf später noch mal an.«
Er rief Sergeant Singh zu sich. »Sagt Ihnen der Name Lucas Ritchie irgendetwas? Inhaber eines exklusiven Privatclubs hier in der Gegend?«
Sie schüttelte den Kopf, aber ihre braunen Augen waren hellwach, und ihre Miene verriet Interesse. »Nein, Sir. Aber ich könnte im Gewerberegister recherchieren.«
Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Seien Sie doch so nett, Sergeant. Und legen Sie mir die Ergebnisse gleich vor.« Er musste hier sehr behutsam vorgehen. Es war sicher keine gute Idee, Weller vor dessen eigenen Leuten offen zu kritisieren, andererseits wollte er auch verhindern, dass mit der
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