Wenn Die Wahrheit Stirbt
Fahrt machen.« Vi klang ein wenig ärgerlich. »Das hab ich ihr schon ein Dutzend Mal gesagt.«
»Freut mich, dass sie wenigstens auf dich hört«, gab er grinsend zurück.
»Ach, hör schon auf.« Vi schüttelte den Kopf, doch ihr Lächeln war wieder da. »Na komm, jetzt gib mir noch ein Küsschen, und dann geh wieder an deine Arbeit.«
Als er sich über sie beugte und seine Wange die ihre berührte,
war ihre Haut kühl. Wenigstens hatte sie kein Fieber mehr. »Also, bis bald!«
»Duncan.« Sie griff nach seiner Hand, als er sich aufrichtete. »Wegen Gemma - du weißt, dass sie schon immer ein Dickkopf war, schon als kleines Kind. Pass auf, dass sie dir nicht plötzlich kopfscheu wird und einen Rückzieher macht.«
Kincaid erwiderte sanft ihren Händedruck. »Und du weißt genauso gut wie ich, dass niemand Gemma zu irgendetwas zwingen kann.«
War es auf der Station von Gemmas Mutter schon kühl gewesen, so herrschten in dem Flur, der zur Leichenhalle führte, geradezu arktische Temperaturen. Während Kincaid den Knoten seiner Krawatte hochschob und die Revers seines Sakkos ein wenig enger zusammenzog, fragte er sich, ob die Bewohner dieser unterirdischen Regionen wohl Thermounterwäsche trugen. Doch der Arzt, der in Kittel und Krawatte forschen Schrittes an ihm vorbeiging, war keineswegs eingemummt wie ein Polarforscher. Der Mann nickt knapp, als er so dicht an Kincaid vorbeiging, dass ihre Schultern sich fast berührten. Kincaid blieb stehen. »Dr. Kaleem?«
»Was?« Der Arzt wirkte verdutzt.
»Entschuldigung - können Sie mir sagen, wo ich Dr. Kaleem finde?«
»Ach so. Sein Büro ist gleich da drüben. Unmöglich zu verfehlen.« Sein Ton war ungehalten, als wollte er andeuten, dass kein vernunftbegabter Mensch es nötig hätte, überhaupt zu fragen.
»Danke«, sagte Kincaid und ging achselzuckend weiter. Plötzlich schlug ihm der unverwechselbare Geruch entgegen, den er bisher wegen der Kälte nicht wahrgenommen hatte - eine Mischung aus Verwesung und Chemikalien -, und dann hörte er Cullens Stimme. Als er das Büro erreichte, kam ihm der Gedanke, dass der Arzt, der ihm den Weg gewiesen hatte,
vielleicht mehr auf den Zustand des Büros selbst als auf Kincaids Orientierungssinn angespielt hatte.
Unmengen von Büchern füllten die Regale, türmten sich am Boden zu Stapeln und überfluteten den Schreibtisch, auf dem ein Computermonitor mühsam um ein bisschen Existenzrecht zu kämpfen schien. Hier und da waren Archivboxen zwischen die Bücher geklemmt, und der einzige freie Fleck an der Wand war mit einem kunstvoll verschlungenen Graffito verziert. Außer dem Schreibtischstuhl gab es keine Sitzgelegenheiten.
Kincaid musste gleich an Louise Phillips’ Büro denken, doch während die Unordnung bei der Anwältin ein Zeichen von Nachlässigkeit zu sein schien, vermittelte dieser Raum irgendwie den Eindruck von Übereifer - als ob die vielfältigen Interessen dessen, der hier hauste, sich einfach über die physischen Begrenzungen hinweggesetzt hätten.
Die Stimme, die Cullen antwortete, war männlich, mit einem extrem geschliffenen Akzent, und in diesem Moment schien sie unter dem Schreibtisch hervorzukommen. »Der blöde Drucker hängt wieder mal.« Ein dumpfer Schlag, dann ein Surren, gefolgt von einem befriedigten Aufseufzen. »Ein gezielter Tritt wirkt manchmal Wunder. Ich liebe die moderne Technik.«
Ein Mann tauchte hinter dem Schreibtisch auf und hielt triumphierend einen Stapel Papier hoch. Kincaid grinste. Kein Wunder, dass der Schlipsträger im weißen Kittel so missbilligend gewirkt hatte. Denn wenn das hier Dr. Kaleem war, dann war der Rechtsmediziner, zumindest was seinen Kleidungsstil anbetraf, ausgesprochen unangepasst. Er trug ein verwaschenes Rockband-T-Shirt und zerrissene Jeans, und sein blauschwarzes Haar war mit Gel zu einem Stachellook frisiert. Und - was Gemma erstaunlicherweise zu erwähnen versäumt hatte - er sah ausnehmend gut aus.
»Rashid Kaleem«, stellte er sich vor, während er die Papiere in die linke Hand nahm und sich über den Schreibtisch beugte,
um Kincaid die rechte zu reichen. »Sie müssen Superintendent Kincaid sein. Sergeant Cullen hat mir schon gesagt, dass Sie den Fall von DI Weller übernehmen.« Er sah sich um, als überlegte er, ob er ihnen einen Stuhl anbieten sollte, und hockte sich dann auf eine Ecke seines Schreibtischs, wobei er einen Stapel Bücher gefährlich nahe an die Kante schob.
»Ich habe Sergeant Cullen gerade erzählt«, fuhr Kaleem
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