Wenn Die Wahrheit Stirbt
in Wirklichkeit war. Ihre Kostümjacke hatte sie bereits ausgezogen - nicht einmal Melody konnte bei dieser Hitze ihre hohen Ansprüche an eine gepflegte Erscheinung aufrechterhalten. »Es ist wegen Samstagabend«, sagte sie, immer noch, ohne Gemma in die Augen zu sehen.
»Melody, wovon reden Sie eigentlich?«, fragte Gemma perplex.
»Ich habe Ihren Anruf verpasst, und ich habe nicht einmal zurückgerufen. Wir sind mit der Familie essen gegangen. Ich hatte mein Handy ausgeschaltet, und später habe ich vergessen, die Mailbox abzuhören.«
»Ach, das meinen Sie. Das hatte ich völlig vergessen.« Gemma merkte, dass sie schwitzte, und streifte ihre leichte Baumwolljacke ab. »Sie waren nicht im Dienst, Melody. Sie haben keinen Grund, sich zu entschuldigen. Schließlich haben Sie einen Anspruch auf Ihre Freizeit.«
»Aber wenn Sie mich gebraucht hätten …«
»Im Nachhinein glaube ich nicht, dass Sie irgendetwas hätten tun können.« Sie erzählte Melody von Tims Anruf und den folgenden Ereignissen, doch noch während sie Melody zu beschwichtigen suchte, kamen ihr leise Zweifel. Falls Naz Malik noch am Leben gewesen war, als sie Melody anrief, hätten sie dann eine realistische Chance gehabt, ihn noch rechtzeitig zu finden? Doch dann schüttelte sie den Kopf und sagte sich, dass dies alles fruchtlose Spekulationen waren.
»Sie haben das kleine Mädchen bei Wesleys Mutter untergebracht?«, fragte Melody, nachdem Gemma geendet hatte. Sie war an die Kante ihres Stuhls vorgerückt; offenbar hatte das Interesse an dem Fall ihre anfängliche Befangenheit schon in den Hintergrund gedrängt. »Das ist ja genial. Wie geht es ihr denn so?«
»So gut, wie man es unter den Umständen erwarten kann, würde ich sagen. Allerdings habe ich keine Ahnung, was man erwarten sollte .« Gemma dachte daran, wie sie Charlotte gestern Nachmittag zuletzt gesehen hatte - schluchzend auf Bettys Arm -, und sie erinnerte sich, wie sich alles in ihr dagegen gesträubt hatte, das Kind so zurückzulassen. »Sie packt das schon«, hatte Betty sie beruhigt. »Sie hat einfach nur einen langen Tag gehabt, und bei dir fühlt sie sich eben geborgen.«
»Ich komm dich morgen besuchen«, hatte Gemma Charlotte versprochen und sie auf die feuchte, klebrige Wange geküsst.
»Ich habe versprochen, heute noch einmal bei ihr vorbeizuschauen«, sagte sie jetzt zu Melody. »Und ich muss nach meiner Mutter schauen. Sie liegt seit gestern im Krankenhaus.«
»Das tut mir leid, Chefin«, sagte Melody rasch. »Kann ich irgendetwas tun?«
Als sie Melodys besorgten Blick sah, flackerte sogleich die Panik in ihr auf. »Nein. Nein, es ist nichts Ernstes«, sagte sie. »Sie hat eine leichte Infektion. Ihr Immunsystem ist durch die Chemo geschwächt. Und sie legen ihr einen Port für die Behandlungen -« Sie brach ab, als sie merkte, dass sie mit ihrem Wortschwall eher sich selbst als Melody zu beruhigen suchte. »Ich bin sicher, dass sie bald wieder auf den -«
Das Klingeln ihres Handys rettete sie. Als sie Betty Howards Nummer auf dem Display sah, entschuldigte sie sich, augenblicklich von einer Unruhe erfasst, wie sie sie bei jedem Anruf von Kits oder Tobys Schule empfand. »Betty, hallo«, meldete sie sich rasch. »Ist alles okay?«
Sie lauschte eine Weile mit ernster Miene, wobei sie mit einem Kugelschreiber auf den Schreibtisch klopfte, und sagte dann: »Gut, ich werde mich mal erkundigen. Ich ruf dich dann zurück.«
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Melody, als Gemma aufgelegt hatte.
»Ich weiß nicht.« Gemma runzelte die Stirn. »Betty sagt, sie hat einen Anruf von Janice Silverman bekommen, der Sozialarbeiterin vom Jugendamt. Silverman teilte ihr mit, sie habe Charlottes Großmutter kontaktiert, die ihr zu verstehen gab, dass sie mit Charlotte nichts zu schaffen haben will. Aber heute Vormittag rief dann Sandras Schwester an, eine Frau namens Donna Woods. Sie sagt, sie will Charlotte zu sich nehmen.«
»Aber das ist doch sicher eine gute Nachricht«, meinte Melody. »Das Kind sollte zu Verwandten kommen.«
»Ja, mag sein«, erwiderte Gemma gedehnt. »Aber das kommt immer auf die Verwandten an.« Ihr wurde plötzlich klar, wie entsetzlich sie es finden würde, wenn Toby und Kit in die Obhut ihrer Schwester kämen - gewiss würden sie dort nicht
misshandelt werden, aber sie wären nicht so geborgen, wie sie es bei ihr waren. Und Blutsverwandtschaft war keine Garantie dafür, dass man geliebt wurde, wie Kits Erfahrungen mit seiner Großmutter
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