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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Mutter, Vater, Onkel, Schwester. Sie waren alles gleichzeitig. Gemeinsam schwebten sie zehn Zentimeter über dem Boden, und Mick rief eines Nachts, auf dem Tresen sitzend, ein Glas Eiliko in der Hand: »Wenn unsere Vorfahren geflattert hätten, könnten wir heute fliegen.«
    »Hat Mick viele Freunde hier?«
    »Ausreichend!«, sagte der Cowboy.
    Er nahm Roswitha den Beutel von der Stirn und sagte: »Oh«!
    »Was oh?«
    »Du wirst eine Sonnenbrille brauchen.«
    Sie tastete nach ihrem Auge und merkte, dass es geschwollen war, auch auf der Stirn hatte sie eine große Beule.
    »Hast du einen Spiegel?«
    »Das macht es auch nicht besser«, sagte der Cowboy und holte eine Pinzette. Er kniete sich neben das Sofa und begann ihr die Rostpartikel, die der Türabdruck hinterlassen hatte, aus der Wunde zu zupfen. Roswitha zuckte bei jeder Berührung zusammen.
    »Du musst stillhalten!«, befahl der Cowboy.
    »Ich kann nicht!«
    »Denk an was Schönes!
    »Hast du einen Vorschlag?«
    »Wieso ich?«
    »Erzähl mir aus deinem Leben!«
    »Ich bin kein Erzähler, ich bin Musiker.«
    »Wie bist hierhergekommen?«
    »Die Gnade der späten Geburt. Ich musste mir einfach nur ein Flugticket kaufen. Ich hab’ Jazz studiert, Klavier und Saxofon, was sollte ich damit in Erfurt? Ich wollte ins Jazzmekka. Ein cooler Typ sein, abhängen mit anderen coolen Typen. Jede Nacht eine andere Session. Alles war ganz leicht; ich hatte ein Stipendium, eine Aufenthaltsgenehmigung, und jeder wollte mit mir Musik machen.«
    »Und dann?«
    »Dann bin ich einfach geblieben. Hier gibt’s keine Meldepflicht, wenn du drin bist, bist du drin. Irgendwie geht das schon. Du darfst nur nicht auffallen, in keine Kontrolle kommen. Und vor allem darfst du nicht krank werden. Ich habe mich durchgeschlagen, mit Gelegenheitsjobs. Als Kellner, auf dem Bau, hatte Gigs, mit etwas Glück sogar fünfmal die Woche für jeweils hundert Dollar. Damit kam ich hin.«
    »Das sind zweitausend Dollar?«
    »Du bist in New York! Baby!«
    »Nenn mich nie wieder Baby!«
    »Bleib liegen, Baby! Sonst stech ich dir mit der Pinzette in die Stirn.
    Ich habe in East Village gewohnt jenseits der ›A‹. Einmal lag ein toter Puertoricaner vor meinem Haus. Da darfst du nicht zimperlich sein. Halt still!«
    »Wo hast du Mick getroffen?«
    »Beim Mittagessen in einem Obdachlosenheim.«
    »In einem Obdachlosenheim?«
    »Glaubst du, hier sind alle reich? Da gab es gutes Essen. Jeden Mittag hat jemand anderes aus der Nachbarschaft gekocht: Vorsuppe, Hauptgericht, Dessert. Was willst du mehr? Mick fiel mir gleich auf. Er sprach schlecht Englisch, meckerte nie über das Essen. Irgendwie spürte ich, dass er aus dem Osten kommt. Ich hatte damals einen Hilfsjob, hier nebenan in der Mausefallenfabrik, da habe ich ihn mitgenommen. Der Chef war ein neunzigjähriger Deutscher, Egon Sperling, dem hat das Haus hier gehört. Der war als Kind mit seiner Familie ausgewandert und hatte ein Herz für Flüchtlinge. Wir haben ihm erzählt, wir wären die erste ostdeutsche Wohngemeinschaft in New York City. Das hat ihm gefallen, und er hat uns ›Ostrabatt‹ gegeben und für einen verträglichen Preis hier wohnen lassen. Wir hatten das ganze Haus für uns. Mick hat unten gewohnt und ich oben.«
    »Und was hat er gearbeitet?«
    »Dies und das. Am liebsten wollte er eine Bar aufmachen, er hinter dem Tresen, ich am Piano und als Lieblingsgast Janis Joplin. Er hat immer behauptet, dass sie noch lebt.
    Jeden Tag kam er mit einer neuen Idee. Er wollte die Sargtischlereieinbeziehen und unser Haus mit Särgen vollstellen und Partys veranstalten. Einmal hat er den Sargtischler überredet, zu Halloween Särge zu vermieten. Das hat sogar Geld gebracht.
    Er hatte Kontakt zu Künstlern in Brooklyn und hat sich ein Schweißgerät besorgt und aus Gerüststangen und Billardkugeln Objekte gefertigt. Alle fanden es toll. Er hatte einen Monat lang eine Ausstellung in einer Garage. Viele Besucher haben ihm anerkennend auf die Schulter geschlagen, aber keiner hat etwas gekauft. Die Vergänglichkeit war sein größtes Problem. Er musste gegen nichts ankämpfen, aber nichts hatte Bestand.«
    »Und wovon hat er gelebt?«
    »Von Gelegenheitsjobs. Am Anfang war es schwierig, weil ihm die Aufenthaltsgenehmigung fehlte, aber dann hat er eine gute Idee gehabt. Sie war so verrückt, dass es selbst die amerikanischen Behörden verblüfft hat. Wir haben behauptet, dass durch den Mauerfall viele Ostdeutsche nach New York kämen und hier ihre typischen

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