Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
hatte. Zwar hatte Mick darüber gelächelt, aber dann hatten sie nebeneinander auf den Dielen gelegen und die gemalten Sterne zu Sternenbildern gedeutet.
Mick hatte Angst vor Romantik. Wie seine Schallplatten war er von einer doppelten Schutzhülle umgeben. Doch wenn man ihn davon befreite, wurde er ebenso zerbrechlich. Nach außen spielte er die Rolle des großen Zampano, dem niemand etwas anhaben konnte. Er meinte, Gefühl zu zeigen mache angreifbar, und Momente wie auf der Wiese der Zappamutter waren selten.
Nur Roswitha wusste, dass es oft anders war. Am schönsten waren die Nächte in der Polstererwohnung, wenn sie bis in die Morgenstunden mit Musik durch die Dunkelheit trieben, sich liebten und Mick von seinen Träumen erzählte.
Noch blieb ihnen ein Jahr, immerhin ein Jahr. Und doch eine Galgenfrist. Roswitha versuchte den Gedanken daran zu verdrängen. Manchmal, wenn sie nach durchfeierter Nacht am Morgen mit der ersten Straßenbahn nach Hause fuhren, suchte sie in den müden Gesichtern der anderen Fahrgäste nach der Antwort, was sie in wenigen Monaten erwarten würde. Im vorangegangenen Semester waren sie noch übermütig gewesen und hatten sich über die Dederonbeutel, in denen sich Brotbüchse undThermoskanne abzeichneten, lustig gemacht. Mit der Albernheit der Betrunkenen lachten sie über die Schlaftrunkenen, die aus Angst, die richtige Haltestelle zu verpassen, bei jedem Klingeln aufschreckten.
»Das Morgengrauen ist das Grauen an sich«, sagte Mick. Und entschied, dass er nie um diese Zeit auf Arbeit fahren würde. Doch selbst Mick wurde immer schweigsamer.
Dabei hatte das Studienjahr für Mick mit einem Jahrhundertereignis begonnen, denn es war ihm gelungen, eine Nana-Mouskouri Quartett-Platte gegen eine Janis-Joplin-LP zu tauschen. Anders als bei Büchern gab es für Schallplatten keine Kataloge, und die Kunde vom Erscheinen einer Platte existierte nur als Gerücht. Jemand sagt, jemand hat gesagt, seine Cousine hat gehört, dass in diesem Jahr eine Janis-Joplin-Platte erscheinen soll. Nicht mehr und nicht weniger. Letztendlich war es auch egal. Schallplattenkäufe konnten nicht geplant werden, man musste »dazukommen«. Jeder Plattenladen bekam ein »von oben« bestimmtes Kontingent der jeweiligen Lizenzplatte, das innerhalb weniger Stunden verkauft war. Sah man auf der Straße mehrere Menschen mit einer bunten Amiga-Papiertüte, musste man sofort jegliche Verrichtung abbrechen und in die Innenstadt eilen. Dort galt es, die richtige Entscheidung zu treffen, denn die beiden maßgeblichen Plattenläden lagen einige Minuten voneinander entfernt, und jede Sekunde zählte.
An der Warteschlange vor dem Geschäft konnte man schon von Weitem erkennen, ob man die richtige Wahl getroffen hatte. Die Frage, welche Platte es gab, war untergeordnet und wäre Zeitverschwendung gewesen, denn häufig wusste niemand am Ende der Schlange, wonach er anstand. Eine Platte war immer ein Tauschobjekt, das bei Weitem den Einkaufswert von 16,10Mark überstieg. Und so sollten sich für Mick die zwei Stunden, die er versehentlich nach einer Nana-Mouskouri-Platte angestanden hatte, auf wundersame Weise kompensieren, als der Polsterermeister aus der Hinterhofwerkstatt eben jene Schallplatte dringend als Silberhochzeitsgeschenk für seine Frau suchte. Als Tauschobjekt bot er Mick eine Janis-Joplin-LP an, die er sich kurz zuvor in dem Glauben, Janis sei ein griechischer Schlagersänger, von einem Kunden gewünscht hatte.
Die ersten Tage nach Erhalt der Platte war Mick nicht ansprechbar. Nicht einmal Roswitha durfte an seiner Euphorie teilhaben. Sie musste warten, bis er mit zerbrochener Brille im Studentenwohnheim auftauchte und sie wieder zurück in die Wohnung über der Polsterwerkstatt holte. Und dann geschah das nächste Wunder
»German Television proudly presents«: Rockpalast. Der eckige Schriftzug war Verheißung. Jeder Buchstabe flimmerte in einer anderen Farbe. Das war Amerika! Roswitha hatte es sich immer als weitläufige Landschaft vorgestellt, durch die ein endloser Highway führte. Und dann, irgendwann nach langer Fahrt, tauchte nachts, mitten in der Einöde, ein bunt beleuchtetes Barschild auf, und hinter der verschlossenen Tür dröhnten die Gitarren.
Die Rockpalastschrift bediente alle diese Wunschvorstellungen. Aber vielleicht war das vom Westdeutschen Rundfunk entworfene Logo nur der Beweis, dass sich die Amerikafantasien in Deutschland Ost und West ähnelten.
Es begann mit »Little Steven & The
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